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Crazy Moon

Crazy Moon

Titel: Crazy Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Dessen
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vor, während ich so vor ihm saß. Als wäre er nicht mehr bloß Norman Norman, der träge Hippie, sondern ein Junge mit dunkelbraunen Augen, der mich ansah und vielleicht – nur für den Fall, dass Isabel tatsächlich Recht hatte – gerade dachte . . .
    »Hör auf mit deinem Lippenring zu spielen«, sagte er ruhig, den Blick auf seinen Block gerichtet. Mit dem Daumen verwischte er einen kräftigen schwarzen Strich.
    »Mach ich gar nicht.« Ich war unwillkürlich verlegen, so als könne er meine Gedanken lesen.
    Was hast du plötzlich, das ist doch bloß Norman.
    Er blickte mich unvermittelt an und einen Moment lang überfiel mich Panik. Hatte ich das etwa laut gesagt? Aber er sah mich bloß ruhig an. Mich, nicht seinen Block.
    »Irgendwas stimmt nicht.« Er ließ mich nicht aus den Augen.
    »Was?«, fragte ich, viel zu hastig. »Was denn?«
    Er stand auf, legte den Zeichenblock beiseite und kam |232| über das kleine Stück Teppich zwischen uns auf mich zu. Mir schlug das Herz bis zum Halse.
    »Halt still.« Er beugte sich vor und steckte eine lose Haarsträhne hinter mein Ohr. Dabei berührte sein Daumen meine Wange.
    Nur eine Bewegung, eine kurze Geste. Wirklich, eigentlich war es gar nichts. Aber als er zu seinem Zeichenblock zurückkehrte, fühlte ich, wie sich irgendwas
in mir
bewegte, stürmisch aufwallte, und ich schloss im Schutz der Sonnenbrille die Augen. Da sah ich ihn noch einmal vor mir: vorgebeugt, mich unverwandt ansehend, die Hand ausgestreckt, um mein Gesicht zu berühren.
    »Kinn hoch. Sieh direkt zu mir hin, Colie.«
    Ich holte tief Luft und riss mich zusammen. Absurd. Mira hätte gesagt, es läge am Horoskop, irgendeine verrückte Mondkonstellation, eine unwiderstehliche Energie von der Art, die Werwölfe auf die Straße treibt und bei Frauen Wehen auslöst.
    Klar, das war es. Irgendeine verrückte Mondkonstellation.
    »Kinn hoch.« Wieder verwischte er einen Strich, den er gerade gezeichnet hatte.
    »Sorry.«
    Eine halbe Stunde verging. Plötzlich klingelte hinter mir das Telefon. Zweimal. Dreimal.
    »Soll ich drangehen, Norman?«
    »Nein.«
    »Wirklich nicht?«
    »Kinn hoch, Colie.«
    Das Telefon klingelte weiter. Es war eines von den alten, mit Wählscheibe und höllisch laut: Ich hörte es sogar von meinem Schlafzimmer aus, das zwei Stockwerke |233| über Normans Zimmer lag. Ein letztes Klingeln, dann krächzte Normans Stimme vom Band des Anrufbeantworters.
    Er schien nichts zu hören, zeichnete eifrig weiter. Ein Piepen ertönte, dann herrschte Stille. Ich dachte, der Anrufer hätte aufgelegt. Bis ich es plötzlich hörte: Jemand räusperte sich, als wolle er gleich etwas sagen.
    Normans Augen hefteten sich auf das Blatt Papier vor ihm. Die Person am anderen Ende der Telefonleitung räusperte sich noch einmal; Norman hob den Stift und ließ ihn regungslos über dem Block schweben, als warte er auf etwas. Ich starrte wie gebannt zu ihm hin.
    Klick. Das Freizeichen. Norman machte sich wieder an die Arbeit.
    Wir schwiegen weitere fünf Minuten, bis ich es nicht mehr aushielt und fragte: »Wer war das?«
    »Was?«
    »Gerade am Telefon. War das ein obszöner Anrufer?« Nachdem Kiki über Nacht mit ihrem Video berühmt geworden waren, hatten bei uns jede Menge seltsamer Typen angerufen. Aus irgendeinem Grund kam meine Mutter bei Leuten, die im Gefängnis saßen, besonders gut an. »Passiert dir das oft?«
    »Kinn hoch.« Er verwischte mehrere Striche. »Augen zu mir.«
    Ich streckte das Kinn vor und setzte mich gerade hin. »Krieg ich nicht mal mehr eine Antwort oder was?«
    »Nein«, sagte er ruhig.
    »Man kann diese perversen Anrufe zurückverfolgen lassen, wusstest du das?« Das Sprechen mit hocherhobenem Kinn fiel mir nicht leicht. »Es ist gar nicht so schwierig . . .«
    |234| »Ich weiß, wer angerufen hat.« Er neigte den Zeichenblock schräger und strich sich gelassen das Haar aus dem Gesicht.
    »Wirklich? Wer?«
    Keine Antwort.
    »Norman?«
    Er legte den Zeichenblock hin und steckte den Stift in die Kaffeedose. »Gibt es in deinem Leben nicht auch Dinge, über die du lieber nicht sprichst, Colie?«
    Es klang ganz normal, nicht gehässig oder so. Trotzdem schwang ein Ton in seiner Stimme mit, der bewirkte, dass ich mir plötzlich total bescheuert vorkam.
    »Das stimmt«, antwortete ich leise.
    »Dann verstehst du mich also?« Ich nickte. Er stand auf und ließ den Zeichenblock auf den Futon fallen. »Okay, wir sind fertig.«
    Ich wusste, dass ich zu weit gegangen war. Aber musste er denn

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