Creepers - Der Fluch der Hexe
Prudence wusste – etwas, das ich nicht hören wollte.
Instinktiv warf ich einen Blick über die Schulter nach draußen, vorbei an dem sich festklammernden Efeu, um nachzusehen, ob Christians Hexe zufällig neben unserem Schuppen stand. Doch natürlich war da niemand. Gierig griff ich nach dem zweiten Tagebucheintrag.
Der Efeu ist alles, was ich noch habe. Wenn ich morgens aufwache, weist er mir den Weg die Treppe hinunter. Jedes einzelne Blatt im Geländer erinnert mich daran, dass ich lebe, weil ich die glatten, klaren Vertiefungen im Holz fühle, wo ich den Efeu mit meinem Stichel zum Leben erweckt habe. Der Efeu an meinen Wänden bildet einen Pakt, einen unlösbaren Bund, zwischen meiner Prudence und mir. Ich hatte beide Hände gegen den Efeu gepresst, als ich das Klopfen an der Tür vernahm.
Es war die Hexe.
»Ich sorge mich um dich.« Ihr Blick wanderte über die Wände und blieb auf meinem Geländer ruhen. »Ich habe nicht gewollt, dass das hier passiert«, sagte sie. Es war das erste Mal, dass sie meinem Blick auswich.
»Prudence ist immer noch nicht nach Hause gekommen«, erinnerte ich sie in einem bitteren Tonfall, »Du bist gar keine Hexe.«
Jetzt blickte sie mich an, und aus ihren Augen flammten Höllenblitze.
»Oh doch, das bin ich. Ich bin gekommen, um dir einen ewigen Bund anzubieten.«
Ihre Stimme klang seltsam. Nicht annähernd wie die einer Frau. Ich versuchte, die Tür zu schließen, doch ihr schwarzer Stiefel stand mir im Weg.
»Wenn du deine Prudence wirklich liebst, wirst du mich reinlassen.«
»Es gibt nichts, was du noch tun könntest«, widersprach ich ihr. Sie hatte mich bereits zum Einsiedler werden lassen – ein Mann, der sich in Gesellschaft der Toten am wohlsten fühlte.
Plötzlich nahm sie meine Hände und drehte sie behutsam um, sodass meine schwieligen Handflächen zu sehen waren. In ihren grünen Augen lag eine unerwartete Sanftheit, als sie meine Hände liebkoste.
»Was tust du da?«, fragte ich sie. In ihrer Milde wirkte sie noch viel beängstigender als zuvor.
»Glaubst du an den menschlichen Geist? Glaubst du, dass das eigene Wesen, bestehend aus Liebe und Hass und Leidenschaft, so stark ist, dass es noch lange fortlebt,
wenn der Körper längst den Würmern zur Nahrung dient?«
Ich blickte sie verständnislos an.
»Du musst daran glauben«, verkündete sie nachdrücklich. »Die Luft, die wir atmen, brodelt von der Leidenschaft all derjeniger, die vor uns gegangen sind. Die Toten liegen nicht in ihren Gräbern. Lediglich ihre Knochen ruhen dort. Die Toten bilden unsere Elemente. Sie nähren die Kräfte von Wind, Feuer und Wasser, welche unsere Welt in Aufruhr versetzen. Ich kann diese Kräfte für euch nutzen, damit du und Prudence für immer aneinander gebunden seid.«
»Lass mich in Frieden«, flehte ich. Die Hexe verführte mich dazu, die Grenzen meiner Vernunft zu überschreiten.
Ich war noch nicht bereit, den nächsten Tagebucheintrag zu lesen. Der letzte hatte mein Herz zum Rasen gebracht. Was meinte sie mit: Die Toten liegen nicht in ihren Gräbern, ihr Wesen lebt für immer fort . Wenn die Geister der Toten in den Himmel kamen, war das eine Sache, aber dass sie sich hier auf der Erde herumtreiben sollten?
Ich betrachtete den Efeu vor dem Fenster, mattgrün im strahlenden Sonnenlicht des Morgens. Starren mich seine Blätter etwa an? Lächerlich. Nur weil sie so aufmerksam an ihren Ranken zu hängen schienen. Was sollten sie wohl sonst noch tun? Plötzlich wünschte ich mir, Mom wäre hier.
Ich blickte auf das Blatt Papier in meiner Hand – Christians grauenhafte Gedanken in Margarets sorgfältiger Handschrift. Es hörte sich so an, als hätte er Angst, und er war immerhin ein Erwachsener. Er musste nicht auf die Hexe hören. Ich legte den dritten Tagebucheintrag auf meinem dünnen Stapel nach oben. Würde mir dieser Ausschnitt verraten, wie verzweifelt Christian tatsächlich war?
Jeden Morgen entdeckte ich sie an einer anderen Stelle – beim Abort, beim Holzstoß, bei der Mauer oder an der Straße. Es war, als würde sie mit ihrer Anwesenheit einen magischen Kreis um mein Haus ziehen. Am Morgen des achten Tages stand sie vor meiner Tür.
Ich würde nicht mehr gegen sie ankämpfen. Die Kühle der Luft war nichts im Vergleich zu der eisigen Kälte in meinen Knochen.
»Bist du bereit?«, fragte sie sanft. Heute sprach sie wie eine Frau.
»Das bin ich«, erwiderte ich. Meine Stimme klang bereits wie die eines Toten.
Sie zog einige Ranken von
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