Crescendo
Der Letzte, der es getan hatte, lag noch immer auf der Krankenstation, was den anderen als Warnung diente. Dafür schikanierten ihn jedoch die Aufseher, und die Mithäftlinge schauten absichtlich weg.
Er hatte alles gesammelt, was über den Prozess in der Zeitung stand, doch die Berichterstattung war inzwischen fast völlig versiegt, und die Erkenntnis, Schnee von gestern zu sein, deprimierte ihn fast genauso wie seine Haft. Wie konnte er seinen Anspruch auf Berufung begründen? Er legte den ausgerissenen Zeitungsartikel auf eine Seite des Albums, neben etwas, das er selbst geschrieben hatte. Seine Kommentare und Bemerkungen über das Leben halfen ihm, die dunkle Seite fern zu halten. Während er die Ränder des neuesten Zeitungsausschnitts mit ungiftigem Kleber betupfte, überlegte er, was er als Nächstes tun würde. Er hatte erst wenige Wochen seiner Haftstrafe abgesessen und machte schon Pläne. Nicht so wie die anderen hier im Knast. Vielleicht würde es ihm schneller zu einer Berufung verhelfen, wenn er in die Kirche eintrat? Ein bekehrter Christ kam immer gut an.
Er probte ganze Gespräche im Kopf. Einmal war er fast zu Tränen gerührt. Er war unglaublich geschickt darin, in andere Rollen zu schlüpfen, deshalb war er bei THE GAME auch unschlagbar gewesen, aber hier durfte er nicht mal in die Nähe eines Computers. Einer von den Aufsehern hatte ihm versichert, dass er sich das für alle Zeit abschminken könne. Er wusste aus der Zeitung, dass es Websites über ihn gab. Manche waren übel, diffamierend, stammten von rachsüchtigen Angehörigen und Freunden der Opfer. Das ließ ihn kalt. Die Website, die ihn interessierte, war die, die seine »Verbrechen« kritisch betrachtete und seine Unschuld beteuerte. Er erkannte den Stil.
Plötzlich ging seine Zellentür auf, und er blickte verwirrt auf die Uhr. Das war ungewöhnlich. Als er Saunders’ grinsendes Gesicht sah, bekam er Angst und hoffte, dass sie ihm nicht anzumerken war.
»Besuch. Los, beweg deinen Arsch.« Der Aufseher trat ihm fest ins Gesäß, weckte alte Prellungen zu neuem Leben. Er war einer der schlimmsten Schläger, und seine Kollegen blickten weg, wenn Saunders dem Häftling 35602K seine besondere Aufmerksamkeit widmete.
Er ging in den Besucherraum und blickte sich um, musterte die Anwesenden fragend, bis Saunders ihn von hinten anschubste. Die Tische standen so, dass die Aufseher zwischen ihnen hindurchschlendern konnten, und die wackeligen orangeroten Plastikstühle waren am Boden verschraubt.
Die Anwesenheit anderer Insassen und die neugierigen Blicke ihrer Gäste beunruhigten ihn. Saunders bugsierte ihn zu dem leeren Stuhl am Ende der Reihe, gegenüber von einem großen Mann in einem schicken Jackett, der sich gerade bückte, als würde er sich einen Schuh zubinden. Er bemühte sich, sein rasches Blinzeln zu kontrollieren, und straffte die Schultern, obwohl er sich seines ungeschützten Rückens durchaus bewusst war. Sein geheimnisvoller Besucher richtete sich auf. Die Form des Kopfes und die Linie des Kinns waren ihm so vertraut wie seine eigenen. Sein Herz machte einen Sprung, und vor Aufregung hatte er plötzlich einen Kloß im Hals. Seit kurz vor seiner Verhaftung hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Er war so nervös, dass er über die eigenen Füße stolperte, als er auf den leeren Stuhl zueilte.
»Du hättest nicht kommen sollen! Ausgerechnet … hierher.« Der Mann, der ihm gegenübersaß, betrachtete ihn schweigend mit Augen, die die Farbe von arktischem Eis hatten. »Du passt nicht hierhin. Das ist unter deiner Würde.«
»Unter deiner auch, trotzdem bist du hier.« Die unausgesprochene Kritik war klar, trotz des sorgsam beherrschten Tons.
»Ich hab dich enttäuscht. Ich hatte keine Ahnung, dass sie der letzte Dreck ist.«
»Du hast die Regeln gebrochen.«
»Ich … ich wollte mich richtig mit ihr treffen.«
»Blödsinn.« Sein Besucher blickte angewidert weg. »Du warst faul, gib’s zu.«
»Ich war faul.«
»Sag es noch einmal.«
»Ich war faul.«
»Ich war blöd, sag es.«
»Ich war blöd. Hör mal, D …«
»Keine Namen. Bist du ein Vollidiot?«
»Tschuldigung.« Griffiths ließ den Kopf hängen, wagte nicht, noch etwas zu sagen, ehe er nicht dazu aufgefordert wurde.
»Ich war im Gerichtssaal, jeden Tag.«
»Ich hab dich gesehen. Danke, dass du wegen mir gekommen bist.«
Der Mann erwiderte nichts darauf, sondern setzte ein Lächeln auf, das Griffiths zusammenzucken ließ.
»Bis zum Schluss habe
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