Crescendo
aus Ginny herausbekommen.«
Nachdem sie abgefahren war, starrte er zu dem Haus hoch. Er hätte furchtbar gern mit Ginny gesprochen, um sich von ihr selbst alles erzählen zu lassen, aber das hätte die mühsame Arbeit der Spezialistin gefährdet. Nach kurzem Nachdenken setzte er sich in seinen Wagen und fuhr davon. Hinter ihm startete unbemerkt ein Motorradfahrer seine Maschine und folgte ihm.
Ginny stand hinter der Gardine des Wohnzimmerfensters und beobachtete den Mann und Siobahn, die nette Polizistin. Er sah ganz sympathisch aus, aber sie war froh, dass er keine Anstalten gemacht hatte, ins Haus zu kommen, um mit ihr zu sprechen. Ihr Gesicht sah von den Blutergüssen noch immer furchtbar aus, obwohl ihre Mum beteuerte, es werde schon besser. Sie war schlimm erkältet, und sie hatte Pickel wie eine Dreizehnjährige. Ihre Haare müssten dringend gewaschen werden, aber sie konnte sich noch nicht überwinden, es selbst zu tun, und hatte den sanften Vorschlag ihrer Mutter abgelehnt, ihr zu helfen.
Sie wollte nie wieder attraktiv aussehen. Die Therapeutin im Krankenhaus hatte ihr erklärt, dass sie widersprüchliche Gefühle haben werde, und ihr einige Beispiele genannt, aber keines der Worte dieser Frau konnte die Selbstverachtung beschreiben, die Ginny empfand. Tränen des Selbstmitleids stiegen ihr in die Augen, und sie konnte nicht mehr klar sehen.
Sie ging zurück zum Sofa und kuschelte sich in die Decke. Es war gemütlich, und sie versuchte zu schlafen. Tagsüber ein Nickerchen zu machen war besser, als nachts zu schlafen, denn dann kamen die Albträume und ließen sie in der Dunkelheit aufschrecken. Tagsüber hörte sie Mum oder Dad irgendwo im Haus rumoren. Die beiden nahmen sich abwechselnd frei, damit sie zu Hause nicht alleine war. Sogar ihr Bruder war lieb zu ihr. Er hatte von seinem Taschengeld im Body Shop was für sie gekauft, als Willkommensgeschenk. Ihre kleine Schwester war der reinste Engel und malte ihr jeden Tag ein Bild. Alex war erst zehn und wusste nicht, was passiert war, aber sie wusste, dass irgendjemand ihrer großen Schwester wehgetan hatte, und ihre Augen waren vor Traurigkeit ganz groß geworden.
Sie vermisste ihre Geschwister. Dad hatte sie zu Grandma gebracht, um ihnen die Besuche der Polizei und die Anrufe der Journalisten zu ersparen. Es war besser, dass sie nicht da waren, sagte sie sich, bedauerte aber zugleich, dass sie hier geblieben war. Die Vorstellung, einen Schritt vor die Tür zu machen, war ihr aber unerträglich gewesen. Sie trug immer nur Schlafanzug und Bademantel seit … schon lange Zeit.
Manchmal glaubte sie, dass sie kurz davor war, verrückt zu werden. Das Leben würde nie wieder so sein wie vorher, was sie unendlich traurig machte. In einer Sitzung bei der Therapeutin im Krankenhaus sollte sie so kurz und prägnant wie möglich beschreiben, wie sie sich fühlte. Zu ihrer eigenen Verblüffung hatte sie gesagt »wie in Trauer«, und sie hatte gleich gewusst, dass das stimmte. Sie trauerte um sich selbst, um die Ginny, die keine Angst vor der Dunkelheit hatte, die zehn Stunden schlafen und mit einem Lächeln aufwachen konnte, die sich auf das Erwachsenwerden und auf alles, was es mit sich bringen würde, gefreut hatte.
Die alte Ginny war für immer fort. Es war genauso, als wäre sie in jener Nacht gestorben. Wieder liefen ihr Trän en übers Gesicht. Sie nahm eins von Dads großen weißen Taschentüchern aus der Tasche ihres Bademantels und drückte es sich ans Gesicht, dann zog sie sich die Decke bis über die Ohren und rollte sich in Embryonalhaltung zusammen, der Welt den Rücken zugewandt.
Kapitel fünfundzwanzig
Im Revier wartete Constable Knots schon auf ihn.
»Was haben Sie rausgefunden?«
»Ich hab mit der Schulleiterin und den damaligen Lehrern von Smith und Griffiths gesprochen. Sie konnten sich gut an die beiden erinnern, an Smith besser als an Griffiths. Sie haben gesagt, Smith war intelligent und arrogant und hat gern die kleineren Jungs schikaniert.«
Er steckte sein Notizbuch weg.
»Ist das alles?«
»Ja, Sir.«
»Und waren die beiden befreundet?«
»Der Informatiklehrer hält das für möglich. Sie saßen in der Klasse nebeneinander.«
»Was ist mit der Lehrerin, die die Theatergruppe geleitet hat? Wieso hat sie Smith rausgeschmissen?«
Knotty hob flehentlich die Hände.
»Ich hab sie noch nicht gefunden. Es sind Schulferien, und sie war nicht da, als ich bei ihr zu Hause angerufen hab.«
»Der Arzt?«
»Steht als Nächster auf
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