Crescendo
die Tasse leer war, würde er den Arzt holen. Er merkte, dass er nur ganz kleine Schlucke trank, während er ihre Hand hielt und den Puls zählte, als wäre es Zauberei.
Der Tag dämmerte, als er heimfuhr. Das Haus lag dunkel und still im grauen Licht. Eine Amsel, die vor Lust nicht schlafen konnte, trällerte auf einem Baum. Alice schlief auf dem Sofa, mit offenem Mund. Er ging in die Küche und machte sich noch eine Tasse Tee.
Der Zorn überraschte ihn. Er hatte gedacht, dass er ruhig sein würde, nicht von dieser Wut erfüllt, die die Ordnung um ihn herum am liebsten zerschlagen hätte. Er hatte bisher alles verdrängt, der Zorn auf Monique und ihre Depressionen hatte all die Jahre auf diesen Augenblick gewartet. Er verspürte den Drang, laut aufzuschreien. Stattdessen presste er den Teebeutel so fest aus, dass seine Fingerknöchel weiß wurden, und wischte sich mit der freien Hand über das Gesicht. Er gab einen Schuss Milch in die Tasse, als er hinter sich Schritte auf weichen Pantoffelsohlen hörte.
»Ist sie von uns gegangen?«
»Ja, Alice, sie ist tot. Möchten Sie Tee?«
Seine Haushälterin stellte sich neben ihn und legte ihm einen rundlichen Arm um die Taille.
»Wenn Sie Wut empfinden oder Schuldgefühle, sträuben Sie sich nicht dagegen. Das ist normal, glauben Sie mir. Das geht uns allen so, wenn der Partner stirbt.« Sie drückte ihn sanft. »Eine Tasse Tee wäre schön, danke.«
Sie tranken eine Weile schweigend, während draußen das einstimmige Gezwitscher zu einem lärmenden Chor anschwoll. Sanftes Licht drang in die Küche.
»Schlafen die Kinder?«
»Wie die Murmeltiere. Haben die ganze Nacht keinen Mucks von sich gegeben. Die Beerdigung …?«
»Darum muss ich mich kümmern. Würden Sie mir dabei helfen? Nur im kleinen Kreis, aber ich muss Moniques Familie verständigen.«
»Natürlich.« Sie zögerte. »Nehmen Sie die Kinder mit?«
Über die Frage hatte er sich schon auf der langen Fahrt nach Hause den Kopf zerbrochen.
»Ich denke, ja. Sie brauchen etwas Greifbares, um sich verabschieden zu können. Aber nur, wenn sie wollen.« »Ich glaube, sie wollen.« »Das glaube ich auch.«
Kapitel fünf
Als das Telefon klingelte, tat sie so, als wäre sie nicht zusammengefahren.
»Hallo?«
»Sergeant Nightingale? Hier spricht Dr. Batchelor. Wir hatten noch nicht das Vergnügen, aber ich würde mich freuen, wenn Sie etwas Zeit für mich erübrigen könnten. Ich bin Gefängnispsychiater. Mr Griffiths ist mein Patient.«
Als Griffiths’ Name fiel, lehnte Nightingale sich gegen die Wand und ließ sich nach unten rutschen, bis sie auf dem kühlen Holzboden saß.
»Ich hätte da ein paar Fragen … Sind Sie noch dran?«
»Ja.« Ihre Stimme war heiser, und sie hustete. »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen helfen kann.«
»Ich weiß, es ist ein wenig ungewöhnlich …«
»Ein wenig!«
»Aber Sie haben monatelang mit Wayne per E-Mail korrespondiert.«
»Das heißt noch lange nicht, dass ich ihn näher kenne o der dass ich über ihn Erkenntnisse gewonnen habe, die für Sie interessant wären.« Sie kreuzte die Finger bei der Lüge. »Ein Treffen wäre gegen die Vorschrift und für Sie und mich reine Zeitverschwendung.«
»Dann am Telefon.«
»Nein, Doctor. Ich möchte das wirklich nicht. Tut mir Leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Es könnte Ihnen gut tun.«
»Ich muss jetzt auflegen. Auf Wiederhören.«
Sie legte den Hörer auf die Gabel und stützte den Kopf in die Hände. Der ganze Nachmittag lag vor ihr wie ein Tier auf der Lauer.
Sie fühlte sich in der Wohnung wie in einer Falle, doch wenn sie nach draußen ging, hatte sie das Gefühl, verfolgt zu werden. Es war idiotisch, ein weiteres Anzeichen der Paranoia, vor der ihre Therapeutin sie gewarnt hatte, aber es verunsicherte sie dennoch.
Nacht für Nacht wurde sie von schrecklichen Albträumen heimgesucht. Im letzten kniete sie vor Griffiths, wie eine demütig Betende, das Gesicht in Höhe seines Nabels, dann zwang er sie, sich nackt auszuziehen. Sie war kurz nach Mitternacht zitternd aus dem Traum erwacht. Als sie nach zwei Tassen Kräutertee wieder eingeschlafen war, träumte sie, in einer Gosse zu knien, Griffiths stand nackt vor ihr, die Arme ausgebreitet, wie bei einer Kreuzigung. Sie sah das Messer erst, als er es in einem raschen Bogen senkte und ihr vor die Augen hielt. Langsam zwang er ihr den Mund auf und schob die Klinge hinein, ließ sie auf der Zunge liegen wie eine Hostie. Er drückte ihr die Lippen zu und
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