Crescendo
zog dann die Klinge schnell heraus. Die scharfe Schneide schnitt in ihr Fleisch, und sie schmeckte Blut im Mund.
Der Eisengeschmack war noch da gewesen, als sie wach wurde. Sie hatte die Hand ans Gesicht gehoben, und sie war voller Blut. Benommen hatte sie sich im Zimmer nach einem Eindringling umgesehen. Erst als sie sich im Badezimmer das Gesicht waschen wollte, sah sie, dass sie Nasenbluten hatte. Sie hatte vor Wut über die verräterische Schwäche ihres Körpers aufgeschrien und fluchend den blutbefleckten Kopfkissenbezug und die verschwitzten Laken gewechselt. Im Morgengrauen war sie in einen schwarzen Schlummer gefallen, aus dem sie drei Stunden später wie gerädert erwachte.
Sie hatte sich krank gemeldet, eine Lüge, die sie nicht schön fand, aber der Gedanke, zur Arbeit zu fahren, war noch schlimmer als die Vorstellung, zu Hause zu bleiben. Das Telefon ließ sie zur Strafe eingestöpselt, und noch vor zehn Uhr erhielt sie drei Anrufe, ohne dass sich jemand meldete. Es zermürbte sie. Nachdem sie die Anrufe anfänglich als kindische Streiche abgetan hatte, war sie jetzt überzeugt, dass eine böse Absicht dahinter steckte. Da sie es zu Hause nicht mehr aushielt, vereinbarte sie einen Friseurtermin und schlug die Zeit bis dahin mit dem Einkaufen von Dingen tot, die sie nicht brauchte.
Sie hatte dem Friseur gesagt, er solle radikal vorgehen, es müsse nicht modisch sein, Hauptsache pflegeleicht. Er nannte das Ergebnis knabenhaft. Sie fand, sie sah aus wie eine geschorene Johanna von Orléans, bereit für den Kampf oder den Scheiterhaufen. Mit dem jähen Vorsatz, sich gesund zu ernähren, ging sie mittags in ein vegetarisches Restaurant, doch als die Quiche und der Salat kamen, hatte sie keinen Appetit mehr und rührte so gut wie nichts an. Wieder zu Hause, trank sie einen Energydrink, ignorierte das blinkende Lämpchen an ihrem Anrufbeantworter und beschloss, laufen zu gehen.
Das Joggen war ursprünglich eine Fluchtmöglichkeit für sie gewesen, als sie mit ihren wenigen Habseligkeiten in einem Rucksack von zu Hause im wahrsten Sinne des Wortes weggelaufen war. Die Polizei brachte sie zwar zurück, doch sie riss immer wieder aus, bis sie irgendwann von einer Polizistin so beeindruckt gewesen war, dass sie sich in den Kopf gesetzt hatte, so zu werden wie sie. Doch das Laufen hatte sie bis jetzt beibehalten. Sie war sogar an dem Morgen joggen gegangen, als sie die Nachricht vom Tod ihrer Eltern erhielt.
Doch heute war es anders. Sie wollte nicht wie üblich im Park laufen und entschied sich für die lange Strecke durch den Wald, wo sie nur zu besonderen Gelegenheiten joggte. Heute würde sie einen letzten Versuch unternehmen, sich von der Paranoia, die sie zu verzehren drohte, und von den zwanghaften Verhaltensweisen zu befreien, die sie zwar genau erkannte, aber einfach nicht in den Griff bekam. Jeder physische Bestandteil ihres Lebens wurde rigoros gebändigt, nur ihr Verstand war heillos außer Kontrolle.
Drei Stunden später waren Nightingales Laufschuhe mit Staub bedeckt. Das T-Shirt klebte ihr am Rücken, sodass sich die Konturen des Sport-BHs abzeichneten, und das schweißnasse Haar umrahmte ein Gesicht, dessen Muskeln vor Erschöpfung angespannt waren. Ein ermogelter freier Tag war zu einem Belastungstest ausgeartet.
Im länger werdenden Schatten einer riesigen Eiche saugte sie die letzten Tropfen Wasser aus der Flasche an ihrem Gürtel. Das Rascheln der Blätter um sie herum klang wie Schritte, die sie verfolgten, doch sie verbannte den Gedanken aus dem Kopf, indem sie sich sagte, dass sie hier sicherer war als sonst wo. Sie blickte widerstrebend auf die Uhr. Es wurde Zeit, dass sie den langen Weg zurück zum Auto lief und nach Hause fuhr. Der Gedanke daran durchfuhr sie schneidender als ein Messer, und sie trieb sich weiter an.
Als sie ihren Lieblingsbaum erreichte, blieb sie endlich stehen und sog gierig die Luft ein. Sie war sehr weit vom Auto weg. Es war Irrsinn, so tief in den Wald hineinzulaufen, bis sie nicht mehr konnte, aber sie war ihren Gedanken noch nicht entkommen, nicht einmal durch das stumpfsinnige Zählen ihrer Schritte. Sie beugte sich vor, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, und ließ den Kopf hängen, sah die Blätter vom Vorjahr, die auf der festen Erde unter dem Baum lagen. Schweißtropfen besprenkelten das staubige Laub und ließen die zarten, skelettartigen Blattadern hervortreten. Als diese Blätter gefallen waren, hatten ihre Eltern noch gelebt.
Ein Schluchzen
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