Crescendo
entfuhr ihr. Sie legte die Hände auf die Lippen, als wollte sie das Geräusch hinunterschlucken, aber es ging nicht. Ein Schrei brach aus ihr heraus, und Tränen vermischten sich mit dem Schweiß, den ihr Körper verströmte. Die Laute gingen ineinander über, wurden zu einem anhaltenden Heulen. Die Beine knickten unter ihr ein, und sie sackte zu Boden, hielt sich ganz fest den Kopf, als könnte sie das wehe Gefühl zurückdrängen, das tief aus ihrem Innern hervorsprudelte. Stattdessen spürte sie, wie sich ein Gegendruck gegen den Schädelknochen aufbaute und ihr die Lunge im Brustkorb zusammenpresste, sodass sie keuchend nach Atem rang.
Das Weinen hatte weder Ursprung noch Ziel, es war einfach da. Welle für Welle tobte durch sie hindurch und aus ihr heraus, schaukelte ihren Körper in einem eigentümlichen Rhythmus vor und zurück. Irgendwann wurde das Weinen leiser, und dann hörten die Tränen auf. Sie nahm die Hände vom Kopf und sah auf ihre Finger. Sie waren blutleer von dem Druck, den sie auf sie ausgeübt hatte. Sie blickte auf den Ring an ihrer rechten Hand, dachte an das Weihnachten, an dem sie ihn geschenkt bekommen hatte, und spürte, wie sich bei der Erinnerung wieder ein Schluchzen bildete. Die Tränen kehrten zurück, und in dem vergeblichen Versuch, sie zu stoppen, biss sie sich fest auf die Zunge. Die nächste Trauerwelle traf sie, sanfter, aber irgendwie tiefer und schmerzlicher, ohne einen Funken Hoffnung.
Sie spürte im Boden unter sich eine Vibration, die zu laufenden Schritten wurde, und als sie aufblickte, sah sie zwei Kinder, die sie neugierig anstarrten. Sie konnte die Gesichter nicht erkennen, weil ihre Augen vom hemmungslosen Weinen verquollen waren, aber sie sah, dass die beiden kurze Hosen und Gummistiefel trugen. Schlagartig sah sie ein weiteres Bild aus ihrer Kindheit vor sich. Sie und Simon hatten das Gleiche getragen. Es gab Schlangen im Wald, und Gummistiefel waren sicherer als Sandalen.
»Mir geht’s gut«, sagte sie heiser. »Wirklich«, aber die beiden liefen davon. Sie hoffte, dass sie ihnen keine Angst eingejagt hatte.
Es war kalt im dunkler werdenden Schatten des Baumes, und Nightingale fröstelte, als sie versuchte aufzustehen, langsam, wie eine alte Frau.
»Daddy! Daddy! Komm schnell. Da sitzt eine Frau unter unserem Baum, die ist ganz traurig und weint.«
Ausgerechnet, dachte Fenwick. Seit der Beerdigung hatten die Kinder ein beunruhigendes Kleinkindverhalten angenommen. Bei Tisch benahmen sie sich schlecht, bestanden darauf, dass er ihnen beim Zubettgehen lange etwas vorlas und dass nachts eine Lampe brannte. Wenn sie sich nicht zankten, bekamen sie bei den albernsten Dingen Lachanfälle. Sie wollten nicht über den Tod ihrer Mutter sprechen und funkelten ihn wütend an, wenn er das Thema ansprach. Er hatte gehofft, ein Spaziergang zu einem ihrer Lieblingsplätze würde für eine positive Stimmung sorgen und sie alle einander wieder näher bringen.
Er war zuversichtlich gewesen, dass sein Plan aufgehen würde. Die Mauer, die er um Chris und Bess hatte wachsen sehen, war rissig geworden, als sie wieder über die vertrauten Waldwege spazierten und durch einst sprudelnde Bäche wateten, die jetzt fast ausgetrocknet waren. Er war geneigt, sich nicht weiter um die Frau zu kümmern. Das Leben war kompliziert, und es war hart. Nach manchen Tiefschlägen tat es gut, sich richtig auszuweinen. Dabei waren die meisten lieber allein, und sie wäre bestimmt nicht erfreut, wenn er sie dabei störte.
»Los, komm, Daddy.« Bess’ Besorgnis versetzte ihm einen Stich. Er fühlte sich mies. Sie erwartete, dass er den normalen Anstand zeigte und sich um einen Menschen in Not kümmerte. Wie hatte er auch nur mit dem Gedanken spielen können, einfach weiterzugehen?
»Wo lang?«
»Hier.« Chris rannte voraus, sodass Fenwick und Bess laufen mussten, um mitzuhalten.
Die Frau war praktisch noch ein Mädchen: dünn, schmutzig, verschwitzt, in Sportsachen, die voller Sand und Laub waren. Fenwick fragte sich, ob sie gestürzt war, und ging zu ihr, als sie versuchte, sich aufzurappeln. Sie zuckte zusammen, als sein Schatten auf sie fiel, und blickte mit verzweifelten, blauen Augen auf. Da erst sah er, dass es Nightingale war.
Er starrte sie erschrocken an, entsetzt über die schreckliche Traurigkeit, die er so schutzlos in ihrem blassen Gesicht sah. Sie wandte den Kopf ab, aber ihre Miene zeigte keine Spur von Erkennen. Sie hatte offenbar nicht begriffen, wer da vor ihr stand. Er
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