Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: corley
Vom Netzwerk:
haben. Was war aus dem Baby geworden? Vielleicht war es zur Adoption freigegeben worden. Ihr Mitgefühl für Lulu ließ nach, als sie die restlichen Briefe öffnete.

    Liebe Ruth, großartige Neuigkeiten. Roger – das ist der Ga-lerist – hat Interesse an meiner Arbeit geäußert. Er ist sehr freundlich …

    Es kam noch sehr viel mehr über Roger, und Nightingale überflog das Blatt, nur daran interessiert, wie Lulu ohne ihr Baby klarkam, aber das Kind wurde mit keinem Wort er-wähnt.

    Liebe Ruth, Du musst mich nicht ständig auf dem Laufenden halten. Es wäre mir sogar lieber, wenn Du es bleiben ließest.
    Ich habe in der Woche vor Weihnachten eine Ausstellung.
    Kommst Du?

    429

    Das letzte Blatt in dem Bündel war ein Ausschnitt aus einer Illustrierten aus dem Jahr darauf. Es war ein Porträtfoto von Miss Lulu Bullock zum Anlass ihrer Verlobung mit Mr Roger Appleby, dem Sohn von Colonel und Mrs A. Appleby aus Windsor. Lulu sah zauberhaft aus, und der Verlobungsring war so groß, dass er für ihre Hand fast zu schwer wirkte.
    Also keinerlei Reue.
    Nightingale packte die Briefe wieder zusammen und war seltsam enttäuscht. Die Abenteuerlust, mit der sie sich auf diese Erkundung gemacht hatte, war verflogen, sie war erschöpft und spürte, dass sie Kopfschmerzen bekam. In der Nacht konnte sie lange nicht einschlafen, und als ihr schließ-
    lich doch die Augen zufielen, träumte sie von verlassenen, weinenden Kindern und vom Lachen ihres Vaters hinter einer Reihe verschlossener Türen. Um ein Uhr morgens holte sie sich ein frisches Glas Wasser und lag wieder lange wach, hörte die Uhr ihres Großvaters die Stunden schlagen. Irgendwann nach drei fiel sie wieder in einen unruhigen Schlummer, in dem sie von Träumen aus ihrer Kindheit heimgesucht wurde. Als sie mühsam wieder aufwachte, san-gen die ersten Vögel.
    Nach dem Frühstück joggte Nightingale lange oben auf den Klippen, ließ sich anschließend aufs harte Seegras fallen und starrte in den Himmel. Körperlich war sie so fit wie seit Jahren nicht mehr. Sie war nicht mehr knochig, sondern hatte geschmeidige Muskeln unter einer braun gebrannten Haut.
    Ihr Gesicht schien um Jahre verjüngt, und von den Anspan-nungsfalten, die sie nie wieder loszuwerden befürchtet hatte, war nichts mehr zu sehen. Sie war nicht gewillt, wieder zu einem nervösen Wrack zu werden.
    Zurück im Haus trank sie einen halben Liter Orangensaft und machte sich dann an die Gartenarbeit, den Kopf voller 430

    bitterer Kindheitserinnerungen. Sie war ein kräftiges Kind gewesen, im Gegensatz zu ihrem kränklichen Bruder. Simon war wie etwas Kostbares und Zartes behandelt worden, während sie die Zähe gewesen war, von der man erwartete, dass sie ihr Leben ohne Probleme bewältigte.
    Zuerst hatte sie versucht, sich die Zuneigung ihrer Eltern dadurch zu verdienen, dass sie das klügste und bravste Kind der Welt war. Gut in der Schule, Auszeichnungen bei den Pfadfindern, Schwimmpokale, Korbballtrophäen, sie hatte alles nach Hause gebracht. Und es hatte nichts geändert. Tropfen fielen auf die Blätter der Sonnenblumen, die sie gerade hoch-band. Sie sagte sich, es sei Schweiß, und schniefte laut.
    Als es nichts gebracht hatte, die beste Tochter der Welt zu sein, war sie die schlechteste geworden. Eine Rebellin, fle-gelhaft, unordentlich, schwierig. Vor ihrem vierzehnten Le-bensjahr war sie schon von zwei Schulen geflogen, und ihre Mutter hatte die Hoffnung aufgegeben, dass aus ihrer Tochter einmal etwas Anständiges werden würde. Ihr Vater war ihr mit unterkühltem Humor begegnet, wenn sie im Grunde nur mal in den Arm genommen werden wollte. Mehr wäre gar nicht nötig gewesen, ein bisschen Wärme von ihm und ihrer Mutter, Mary, der Eiskönigin.
    Plötzlich kam ihr die Erinnerung an ein Familienpicknick.
    Sie war von einer Wespe gestochen worden, und ihre Tante und ihr Vater hatten sich besorgt um sie gekümmert, den Stich ausgesaugt, Salbe drauf geschmiert, sie mit dem Versprechen getröstet, ihr ein Eis zu kaufen. Ihre Tante hatte sie fest in beide Arme genommen und die geschwollene Hand geküsst, damit sie nicht mehr so wehtat, doch ihre Mutter hatte sie weggezogen. »Meine Güte, nun mach nicht so ein Getue um sie. Sie ist sowieso schon viel zu verwöhnt!« Sie war acht Jahre alt gewesen.

    431

    Wieder musste Nightingale blinzeln und stellte dann frische Schneckenfallen auf, bis ein kräftiger Westwind eine Regenfront herantrieb, die die Farm mit einem undurch-dringlichen Vorhang aus

Weitere Kostenlose Bücher