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Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: corley
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keine Ahnung gehabt hatte, woran die Liebe ihrer Eltern gescheitert war.
    Sie riss das Band vom ersten Bündel Briefe, die, wie sie feststellte, aus demselben Zeitraum stammten wie die Fotos.
    In einem schrieb Tante Ruth an ihren Bruder: Lieber Henry,
    hoffe, Dir geht’s gut. Du hast uns am Wochenende gefehlt –
    das heißt, Mutter hast Du gefehlt. Es war ihr Geburtstag, und Du hattest versprochen zu kommen. Aber genug davon.
    Ich möchte mich nicht auch noch unter die vielen Nörgler ein-reihen. Hoffentlich ist das nicht erblich!
    Wie geht’s Mary, ist ihr morgens immer noch so oft schlecht?
    Mutter meint, es werden Zwillinge – stell Dich schon mal 426

    drauf ein, von solchen Dingen versteht sie nämlich was.
    Lulu fragt noch immer nach Dir. Ich weiß, Du magst es nicht, wenn ich von ihr schreibe, aber sie ist meine Freundin, und ich kann nur schwer mit ansehen, wie sie sich Hoffnungen macht.
    Du bist ihr eine Erklärung schuldig. Es geht ihr nicht gut, und ihre Arbeit leidet darunter. Du könntest ihr wenigstens einen Abschiedsbrief schreiben, damit sie anfangen kann, über Dich hinwegzukommen.

    Die träge Handschrift ihres Vaters füllte den Raum am Ende des Briefes: Nachricht erhalten und verstanden.
    Ungeduldig durchsuchte sie die übrige Korrespondenz und fand eine Notiz, die drei Monate später geschrieben worden war.

    Liebe Ruth,
    ich werde für ein paar Wochen auf Besuch kommen. Mary ist zurzeit etwas schwermütig und will zu ihren Eltern – ein grässlicher Gedanke, dass ich mitmüsste, und, ehrlich gesagt, eine Pause würde mir gut tun. Die Ehe ist ein hartes Brot, und wir haben noch nicht mal Kinder. Herr, stehe uns bei.
    Was soll ich nur mit zweien anfangen? Eins reicht schon. Es ist ein Albtraum.

    Wieder wurden Nightingales Augen feucht. Zweitgeborenes Kind, Mädchen. Sie hatte nie das Gefühl gehabt, gewollt zu sein, und die kalten Worte ihres Vaters taten weh. Sie blinzelte und las weiter. In der letzten Zeile wurde Lulu erwähnt.

    Lulu hat mich auf der Arbeit angerufen. Sei nicht böse, aber ich habe gesagt, ich würde mich mit ihr treffen. Nur um zu reden, um einiges zu klären. Sie hat mir erzählt, dass sie den Sommer 427

    bei Dir verbringt. Das ist sehr lieb von Dir. Ich weiß, ich habe mich nicht gut benommen. Ich war zu weich, das ist das Problem, aber diesmal bin ich wirklich zerknirscht. Ich habe ihr wehgetan, ja, aber auch Dir, und das schmerzt am meisten. Ich wür-de gern wieder alles in Ordnung bringen, aber ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Du wirst mir doch beistehen, nicht wahr? Du bist ihr eine gute Freundin, und ich brauche Dich sehr. Ich kann es kaum erwarten, Euch wieder zu sehen – nächsten Dienstag komme ich.

    Nightingale versuchte, den aufsteigenden Zorn auf ihren Vater niederzukämpfen. Er hatte alles auf den Schultern seiner jüngeren Schwester abgeladen, sie sollte die Dinge in Ordnung bringen, sich sogar um seine schwangere Exgeliebte kümmern, und er hatte sich nicht mal entschuldigt. Die emotionale Erpressung in dem Brief war unübersehbar.
    Und was war aus ihrer eigenen Mutter geworden, die mit Zwillingen schwanger war? Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand Nightingale Mitleid für sie. Das Band um das dritte und letzte Bündel Briefe war zu einem festen Knoten verschnürt, und sie brauchte einige Minuten, ihn zu lösen. Das Datum des ersten Briefes verriet ihr sofort, dass er drei Tage vor ihrer Geburt geschrieben worden war.

    Ruth, ich brauche Dich. Mary ist in zwei Wochen so weit, aber sie will das Kind unbedingt zu Hause bekommen.
    Komm zurück und bleib bei uns. Es tut mir Leid, dass ich Deine Ferien unterbreche, aber bitte komm!

    Ansonsten waren keine Briefe von ihrem Vater mehr dabei. Ein vergilbter Zeitungsausschnitt verkündete die Geburt von Simon John und Diane Nightingale am 3. September.

    428

    Zum Schluss stieß sie auf drei Briefe, die noch in den Umschlägen steckten und alle auf blasslila Papier geschrieben waren. Nightingale betrachtete die Briefmarken. Sie waren in dem Herbst nach ihrer Geburt in London abgestempelt worden.

    Liebe Ruth, danke für Deinen Brief. Mir geht es eigentlich ganz gut, und ich bin froh, dass alle wohlauf sind. Nein, ich habe keine Nachricht für Henry, und ich möchte wirklich nicht, dass du ihm meine Anschrift gibst. Ich habe mich um einen Job in einer Privatgalerie beworben. Nichts Tolles, aber der Besitzer macht auf mich einen ganz anständigen Eindruck …

    Lulu schien ihr Leben im Griff zu

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