Crescendo
Luxus. Mit Hilfe von ein paar Pillen kam er wochenlang mit nur drei bis vier Stunden pro Nacht aus und fühlte sich morgens frisch. Um vier Uhr hatte er die Sachen ausgesucht, die er mitnehmen würde, und sie in die Satteltaschen seines Motorrads gepackt. Alles andere brannte im Kamin oder steckte in einem Müllsack gleich neben der Hintertür.
Sein Laptop war noch immer mit der Telefonbuchse verbunden. Er wollte ihn gerade wegpacken, als er wieder an die Polizistin dachte. Er musste sie finden, so mühselig das auch war. Erst wenn er sie getötet hatte, konnte er das Land erhobenen Hauptes verlassen. Sie hatte ihm ernsthaft Unannehm-lichkeiten bereitet und musste sterben, damit er sich wieder frei fühlen konnte.
Er zwang sich zur Konzentration und schaltete den PC
ein, als das erste Tageslicht auf den Rand des Sees fiel. Vielleicht lag es an der Klarheit des frühen Morgens oder an der Frische seines Gehirns, aber in diesem Augenblick begriff er mit einem Schlag, dass er mit dem Durchforsten der Dateien seine Zeit vertan hatte. Das war gar nicht nötig. Das Internetcafé, in dem sie gewesen war, gehörte mit Sicherheit einem Computerfreak: Es hatte einen eigenen Server, was höchst ungewöhnlich war und bedeutete, dass das Café einen regist-rierten Standort und eine eigene IP-Adresse hatte, die er herausfinden konnte. Die zwei Jahre, die er im Bereich IT-423
Sicherheit gearbeitet hatte, waren also doch nicht vergeblich gewesen. Es war zwar schon über ein Jahr her, dass er derlei Suchaktionen gemacht hatte, aber so etwas verlernte man nicht.
Er dehnte die Finger, dass die Knöchel knackten, und beugte sich dann über die Tastatur. Die Jagd war eröffnet. Er würde den Standort des Internetcafés ausfindig machen, die Sache in Telford erledigen und dann die Polizistin aufspüren.
Ein Sonnenstrahl drang durch das offene Fenster, und er wusste plötzlich genau, dass es ein ganz besonderer Tag werden würde.
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Kapitel sechsundzwanzig
Nightingale erwachte spät, blieb aber noch liegen und starrte auf die Schatten, die das Sonnenlicht auf die Schlafzimmerwände warf. Körperlich fühlte sie sich hervorra-gend, aber sie war ruhelos. Nach dem Aufstehen ging sie mit einer Tasse schwarzem Kaffee in den Garten und sah, dass zwischen ihren Stangenbohnen schon wieder Unkraut wucherte. Über zwei Dutzend Schnecken waren im Vollrausch in den mit Bier gefüllten Fallen ertrunken, die sie aufgestellt hatte, und Vögel hatten am Salbei herumgepickt. Sie machte sich daran, die Nebengebäude der Farm zu erkunden, wie jemand, der am Strand das Treibgut durchsucht, um sich die Zeit zu vertreiben. In der ehemaligen Käserei waren alte Äpfel zu einer eingetrockneten braunen Masse verrottet. Der süße Mostgeruch, der unter dem Staub verblieben war, hatte Hunderte von Schwalbenschwanz-Schmetterlingen angelockt, die nun wie ein bunter Teppich tot auf dem verdorrten Obst lagen. Neben den Schmetterlingen entdeckte Nightingale einen alten Koffer, den sie ins Freie schleppte.
Es war eigentlich eine Reisetruhe, in der ihre Tante aus-rangierte Kleidung aufbewahrt hatte. Sie öffnete sie und verteilte den Inhalt auf eine Decke. Ganz unten, unter vergilbten Seidenunterröcken, fand sie eine lederbezogene Schatulle voller Fotos und Bündel von Briefen, die mit Bändern zusammengebunden waren. Nach kurzen Bedenken siegte die Neugier, und sie machte sich an die Durchsicht.
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Das erste Foto zeigte drei Personen beim Picknick – ihre Tante, ihren Vater und Lulu. Auf dem nächsten, auf dessen Rückseite »Weihnachten« stand, waren ihre Tante und ihr Vater zu sehen, der aus vollem Halse lachte. Nightingale blinzelte fest, bevor sie das Foto schnell mit einem anderen bedeckte, das jedem Anflug von Tränen ein Ende bereitete.
Auf dem Schwarzweißbild küsste ihr Vater Lulu mitten auf den Mund. Dem Datum auf der Rückseite nach zu schließen, war es dasselbe Jahr, in dem ihre Eltern geheiratet hatten. Auf einem anderen Foto saß Lulu gegen ihn gelehnt, ihr Kopf ruhte entspannt unter seinem Kinn, und sie blickte ernst, aber nicht traurig. Die Hände ihres Vaters lagen auf Lulus gewölbtem Bauch. Kein Zweifel: Sie war schwanger.
Nightingale starrte in die Augen ihres Vaters und erlebte plötzlich einen überraschenden Zornesausbruch. Sie hatte die Ehe ihrer Eltern als eine Beziehung gesehen, die von sachlicher Akzeptanz geprägt war, nüchtern und bequem, durchsetzt von gelegentlichen Streitereien. Beschämt wurde ihr klar, dass sie
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