Crescendo
als sie Tränen in ihren Augen sah.
»Das kann ich nicht; es steht mir nicht zu, Ihnen die Wahrheit zu sagen. Ich habe mein Wort gegeben, und auch wenn der Mensch, dem ich mein Wort gegeben habe, nicht mehr lebt, kann ich es trotzdem nicht brechen.«
»Können Sie es nicht oder wollen Sie es nicht?« Jegliches Mitleid, das sie beim Anblick der alten Frau empfunden hatte, verpuffte in einem Anfall von Frustration, der ihre Augen auflodern ließ. Amelia machte einen Schritt zurück, die 434
Handtasche schützend vor die Brust gehoben. Nightingale spürte, dass ihr Widerstand schwächer wurde, und hakte nach, vermischte Lügen mit noch unausgegorenen Gedanken.
»Denken Sie, ich wüsste es nicht schon längst? So dumm bin ich nicht! Warum können Sie mir nicht einfach die Wahrheit bestätigen?
Wochenlang haben Sie so getan, als wären Sie meine Freundin, aber die ganze Zeit über haben Sie mir Dinge ver-schwiegen, wichtige Dinge, die zu wissen ich ein Recht ha-be. Ich musste Nachforschungen anstellen und herumspeku-lieren. Nett ist das nicht, oder? Nicht zu fassen, dass Sie so grausam sein können.«
Während sie sprach, merkte Nightingale mit Entsetzen, dass ihre angeblichen Gefühle tatsächlich Realität wurden.
Amelias Reaktion hatte ihr Angst gemacht. Sie konnte nicht mehr klar sehen, weil ihr Tränen in die Augen schossen, obwohl sie zu wütend war, um weinen zu wollen.
»Wie konnten Sie nur?« Sie schleuderte die Worte nach hinten über die Schulter in Amelias aschfahles Gesicht und floh aus der Kirche.
Sofort durchnässte der Regen ihr Haar und kühlte sie ab.
Sie streifte sich die Kapuze über und rannte weiter, froh, dass ihre Tränen fortgespült wurden. Als sie Mill Farm schließlich erreichte, war sie erschöpft und bereute ihren Ausbruch in der Kirche aus tiefstem Herzen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie hatte sich manipulativer Vernehmungsmethoden bedient und war dann selbst so von ihnen mitgerissen worden, dass sie das so schnell nicht vergessen würde. Amelia musste sie ja für gefährlich labil halten. Mit ihrer Freundschaft war es vermutlich vorbei. Sie bedauerte das nicht ganz so sehr, wie sie es eigentlich hätte tun müssen, denn die Frau 435
war schließlich sehr nett zu ihr gewesen, aber ein schlechtes Gewissen hatte sie trotzdem.
Bei dem Dauerregen wurde es bald dunkel, und sie ging lächerlich früh ins Bett. Ein unbekanntes Geräusch schreckte sie auf. Im Licht der Taschenlampe, die sie immer griffbereit hatte, sah sie auf die Uhr: zehn vor zehn. Vielleicht hatte eine heftige Windböe sie aufgeweckt, aber sie wusste, dass sie nicht wieder einschlafen würde, ohne sich zuvor vergewissert zu haben, dass sie allein war.
Als sie gerade die Treppe hinuntergehen wollte, hörte sie ein lautes Scheppern. Eindeutig das Geräusch eines alten Melkeimers, der umgestoßen worden war, und sie wusste genau, wo sie ihn stehen gelassen hatte, neben der Hintertür.
Sie schaltete die Taschenlampe aus und wartete ab, bis sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten.
Das Dröhnen des Blutes in ihren Ohren ahmte das Ge-räusch des Regens draußen nach, als sie leise die Treppe hi-nunterschlich und dabei darauf achtete, nicht auf die morschen Eckstufen zu treten, die ihr Gewicht nicht mehr tragen würden. Draußen fiel von der Vorderseite des Hauses schwaches Licht in den Garten. Drinnen war die Dunkelheit undurchdringlich. Nightingale schob sich vorwärts, ertastete mit der linken Hand den Küchentisch und die Stühle, während sie mit der Rechten fest die Taschenlampe umklammert hielt.
Ein jähes Klopfen an der Hintertür ließ sie fast vor Panik aufschreien.
»Louise? Louise, sind Sie da?« Es war eine Frauenstimme.
Amelia.
Vor Erleichterung leise fluchend, schaltete Nightingale die Taschenlampe wieder an und öffnete die Tür. Eine Alkohol-fahne schlug ihr entgegen.
»Gott sei Dank! Das ganze Haus war dunkel, und ich 436
dachte schon … Ach, ist ja auch egal, was ich gedacht habe.
Sie sind wohlauf, Gott sei Dank. Warten Sie, ich geh schnell ums Haus und mach das Licht an meinem Auto aus, bevor die Batterie den Geist aufgibt.«
Sie trippelte mit der Taschenlampe davon. Nightingale schaltete die Lampen ein und war gerade dabei, den Ofen wieder anzuheizen, als ihre Besucherin zurückkam.
»Sie sind ja pitschnass, Amelia. Setzen Sie sich hierher und wärmen Sie sich auf. Tee oder einen Grog?«
»Lieber einen Grog, bitte.«
Was hatte sie anderes erwartet?
Amelia streckte
Weitere Kostenlose Bücher