Crime
abzuwälzen, während er sekündlich die Situation neu hinterfragt. Justieren und fein abstimmen, korrigieren, mit einer Präzision wie der von Chets Navigationssystem. Er wird nicht schlau daraus. Seine Sicht auf die Welt, die reduzierte und misanthropische des schottischen Polizeibeamten, scheint ihm keinen adäquaten Rettungsring abzugeben. Die alten Gewissheiten, mit denen er sich getragen hat: von den moralisch bankrotten, bösartigen Reichen, den ignoranten, schwachen Armen und dem ängstlichen, engstirnigen, verklemmten Bürgertum– selbst alle zusammengenommen wirken sie in ihrem Kretinismus nicht eindrucksvoll genug, um die Welt so vor die Wand gefahren zu haben, wie es zurzeit aussieht. Und er ist zu müde, um an Gott überhaupt zu denken. Wie hat Robbo die Welt noch gesehen? Fünfzig Prozent derMenschen sind ehrlich. Die kannst du komplett abhaken. Sie begehen vielleicht Bagatelldelikte, aber im Grunde bleiben sie brav auf dem Pfad der Tugend. Die anderen 50Prozent teilen sich auf in die Bösen, etwa zehn Prozent, und die Schwachen und Dummen, das sind die restlichen 40. Auch in dieser Berechnung kam den Bösen kein so großes Gewicht zu; es gab sie, und sie wurden möglichst zur Strecke gebracht. Die Schlüsselgruppe waren die Dummen und Schwachen. Sie stellten das Gros aller, die Verbrechen begingen beziehungsweise Verbrechen zum Opfer fielen.
Je älter er wurde, desto mehr neigte er dazu, sich an derart banale Paradigmen zu klammern wie ein Ertrinkender an glitschiges Treibholz. Das deprimiert ihn, und er merkt, dass er sich wieder nach einer Nase Koks sehnt. Für einen Pulsschlag oder drei ist das alles , was er sich wünscht.
– Kann ich noch eine Cola haben?, fragt Tianna gerade die Kellnerin, als der Klingelton »Home Lovin Man« ertönt und ein Gespräch auf Chets Handy anzeigt, was Lennox wieder daran erinnert, dass er Trudi anrufen muss.
– Entschuldigt mich, Chet steht hastig auf und geht nach draußen. Seiner Hast entnehmen Lennox und Tianna, dass das Gespräch wichtig ist; durch die Fenster des Restaurants folgen sie ihm mit ihren Blicken, während er an den Kais und dem Bootshaus aus Aluminium entlanggeht und das Gespräch mit wilden Gesten begleitet.
Lennox sieht ihr Gesicht neben seinem eigenen in der Fensterscheibe gespiegelt. Ihm wird bewusst, dass sie ihn kopiert, seine Bewegungen nachahmt. Für ihn ist es genauso verstörend wie schmeichelnd, ihr Vorbild zu sein. Ist er ein besseres, als Robbo für ihn gewesen war? Denn damit muss jetzt Schluss sein: diese Verdächtigungen gegenüber Chet. Wie bei dem Kerl in der Leihwagenfirma oder Four Rivers bei dem Bootsausflug; die können nicht alle Kinderschänder sein. Es können doch nicht alle auf der Welt miteinem Schwanz– oder einer Pflaume, denn da war ja noch Starry– Triebtäter sein. Die armen Kids an der Tankstelle! Trudi hatte recht. Er ist müde. Ausgepowert. Nicht er selbst. Hat sogar Angst. Sieht Dinge, die gar nicht da sind. Den Geist von Britney. Seine Hände zittern. Er braucht seine Antidepressiva. Es war eine Idiotie gewesen, sie wegzuwerfen. Er ist krank, klinisch depressiv, und auch noch so viel Wintersonne kann das nicht kurieren. Chet ist koscher. Ganz bestimmt . Er wendet sich an Tianna.– Er wirkt ganz nett. Ich wollte nur sicher sein, nach der Gesellschaft, in der wir vorgestern Abend waren. Das verstehst du doch, oder?
– Danke, dass du auf mich aufpasst, sagt sie, aber mit einem so leisen Stimmchen, ihr Gesicht jetzt das eines viel jüngeren Kindes– ein Übergewicht von Gefühl gegenüber Kalkül–, dass er alles, was ihn ausmacht, verpuffen fühlt. Irgendetwas stimmt hier nicht; nicht, seit sie unter Deck gewesen ist.
– Aye. Lennox schluckt etwas Speichel herunter. Eine quälende, schreckliche Vision, wie es wäre, sie mit nach Schottland zu nehmen, überflutet sein Bewusstsein. Sie sollte auf eine gute Schule gehen, sich mit vernünftigen Freundinnen auf dem Murrayfield Ice Rink oder im Commie Pool amüsieren, den Schulabschluss, Sachen mit der Familie machen. Nicht mit ihm und Trudi. Nicht in seinem Schottland; das hieße für sie, aus dem Regen in die Traufe zu kommen. Lennox sieht seine Lebensumstände realistisch genug, aber das Onkel-Ray-Etikett macht ihm Spaß. Jackie und Angus haben zwei Jungs. Er mag sie, aber das Interesse war nicht groß. Einmal, noch bevor Angus sich unters Messer gelegt hat, hatte sie ihm erzählt, dass sie eigentlich ein Mädchen gewollt hatte. Das Vollprogramm ist
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