Crime
versucht, die Männer zu finden, die Les das angetan haben. Und mir. Bis jetzt ist es mir noch nicht gelungen. Aber ich schnappe sie noch. Vorher gebe ich nicht auf.
– Du gibst nicht auf, weil du gut bist, Ray. Du bist ein guter Mensch, sagt sie zu ihm.
– Nein, ich gebe deshalb nicht auf, weil mir nicht passt, was sie machen. Mein Freund Les ist der gute Mensch, weil er die Größe hatte, darüber wegzukommen. Verstehst du?
Ja, es stimmte. Trudi und er haben gleichzeitig genau denselben Gedanken: dass Ray Lennox emotional verkrüppelt ist. Ein Teil von ihm wird immer der verängstigte kleine Junge in diesem Tunnel bleiben. Der Rest, das Kickboxen, die Polizeiarbeit, die Jagd auf Kinderschänder– alles ein krampfhafter Versuch. Solange er seinem Job nachgeht, würde sich daran nichts ändern . Er muss das alles hinter sich lassen.
Ich muss das alles hinter mir lassen.
Sie spürt die beängstigende Aufrichtigkeit, die sich aus ihm Bahn bricht, und es drängt sie, es ihm gleichzutun, ihre Ehe mit reiner Weste zu beginnen. Der Immobilienheini, ich muss ihm das gestehen …
Schweigend verlassen sie das Café. Lennox will aus irgendeinem Grund noch in einen Walgreens rein, und Trudisieht beunruhigt, dass er mit einem kleinen Kanister Benzin wieder herauskommt. Sie gehen wieder über die Lincoln zurück, doch dann biegt er links in die Meridian Avenue ab, und sie laufen an ein paar gesichtslosen Häuserblocks entlang.– Wo gehen wir hin, Ray?, fragt Trudi mit zunehmender Besorgnis.
– Es ist nicht weit, sagt Lennox, während um sie herum der Art-déco-Distrikt allmählich von den Hochhäusern mit Eigentumswohnungen im nördlichen Miami Beach abgelöst wird. Sie kommen am Convention Centre vorbei, und die Mädchen müssen sich anstrengen, in dieser Hitze mit Lennox Schritt halten zu können.
Aber Tianna Marie Hinton erinnert sich plötzlich wieder daran, wie gerne sie früher gewandert ist, wie gerne sie in Mobile spazieren gegangen ist, und bleibt ihm dicht auf den Fersen. Sie spürt ihre forschen Schritte, ihre Arme schwingen, und wie die Lebensfreude ihren Körper durchströmt. Nicht so tief in ihr vergraben, dass kein Blutsauger sie ihr nehmen konnte, sondern knisternd und pulsierend in der Hitze und dem Licht um sie herum. Sie muss daran denken, was Ray über Hank Aaron und die Leute, die die Teller in dem Restaurant zerschmissen haben, gesagt hat. Scheiß auf diese Arschlöcher! Trudi Lowe, animiert vom wiedererwachten Schwung des Mädchens, beschleunigt ihre Schritte, um den Anschluss nicht zu verlieren.
Dann, als sie die 19 th Street überqueren, empfängt sie ein verblüffender Anblick: zu ihrer Rechten streckt sich eine riesige grüne Hand in den Himmel. Zuerst sieht es aus, als würde sie einem Ertrinkenden gehören, aber die Geste, mit der sie sich ins Azur reckt, ist gleichermaßen trotzig wie gequält. Was zuerst wie ein Knäuel Gräser aussieht, das um ihr Handgelenk geschlungen ist, entpuppt sich bei genauerer Hinsicht als wirrer Knoten lebensgroßer menschlicher Leiber, allesamt unterernährt und sich im Todeskampf windend. Beim Näherkommen knistert das deutliche Gefühl von etwas Dramatischem in ihren Gliedern und der Luft um sie herum. HAAAAAAALLLLLLLLLLLLLLOOOOOOOOOOOOOO ? Die Hand sprießt aus einer Insel in der Mitte eines Teichs inmitten eines gekachelten Platzes. Als sie über die gepflasterte Fläche laufen, sehen sie sich plötzlich mit der Statue einer weinenden Mutter mit zwei Kindern konfrontiert. Auf der Mauer hinter der zu Stein erstarrten Familie steht der Satz: »Und trotz allem glaube ich noch an das Gute im Menschen.« Das Zitat ist Anne Frank zugeschrieben.
Ein uniformierter Wachmann, dessen dunkler Teint und markante Gesichtszüge eher auf einen Afrikaner als einen Afroamerikaner hinweisen, sitzt vor einem Wachhäuschen. Der Verkehr, der die Meridian Avenue hochrumpelt, scheint es ehrerbietig leise zu tun. Bewegungslos und ehrwürdig überragen Palmen den Teich, der an seiner Vorderseite von einem Halbkreis aus Säulen und weiß blühenden Blumen eingefasst ist, die einen Baldachin über einer kahlen, knochenharten Marmorwand bilden. Auf diesem Monument sind vandalensichere Texte und Bilder eingemeißelt, die die Geschichte des Holocaust erzählen. Eine Tafel, die niemand verunstalten oder auswischen kann; eine Bibliothek der Ultima Ratio. Und dann stehen dort Namen: Hunderte, Tausende, Millionen von Namen: die der Erwachsenen und die der Kinder, die in den
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