Crime
verärgert war, leicht geschlagen.– Habt ihr je von einem Paddy gehört, der tanzen kann?, fragt er die versammelte Gesellschaft ausLennox, Nadia, Dolores, Bill und Jessica vor dem Essen während der Aufwärmdrinks in seiner Lieblingscantina.
– Michael Flatley?, erwidert Jessica.
– Der ist ein Homo, ein Schokostecher; die können immer tanzen, spottet Ginger,– ich rede von normalen, heterosexuellen Paddys wie unserm Bill hier.
– Flatley ist nicht schwul. Er ist verheiratet, sagt Jessica und hebt einen Margarita an ihre Lippen.
– So wie der tanzt, soll er hetero sein? Ginger lacht höhnisch.
El Hombre de la Cantina de Fettes , sinniert Lennox. Dann, als er an Tianna denkt, die auf einer spontanen Shoppingtour mit Trudi ist, fragt er Nadia, wie sich die Mädchen an ihrer Schule eigentlich kleiden.
– Das ist meine größte Sorge, sagt sie und zerkaut knirschend einen eingetunkten Salsa-Chip.– Ständig muss ich Mädchen nach Haus schicken. Mit zehn, elf tragen sie so kurze Röcke, dass man ihre Höschen sehen kann. Ich erklär ihnen, ›Du musst dich richtig bedecken, Kleines‹. In den meisten Fällen denken die sich gar nichts dabei, es ist halt die Mode. Die gucken mich dann an, als wäre ich so eine böse, alte Hexe, sagt sie und streicht sich die langen, lockigen Haare aus dem Gesicht.– Aber was passiert, wenn man es durchgehen lässt? Junge und auch nicht mehr so junge Typen werden auf sie aufmerksam. Und ihnen gefällt das, deswegen fangen sie mit diesem ganzen Sexkätzchen-Spiel an, ohne wirklich zu verstehen, was sie da eigentlich tun.
Lennox hat festgestellt, dass er die Konsumgewohnheiten junger Mädchen während der letzten Woche bewusster wahrgenommen hat: wie sie sich anzogen, was sie lasen, welche Platten sie kauften, wie sie miteinander redeten. Er hatte gelesen, dass sie heute früher in die Pubertät kamen und ihre erste Periode kriegten. Anscheinend war das Erwachsenwerden heute stressiger denn je. Er überlegte, wiees in seiner eigenen Kindheit gewesen war. Sie schien heil gewesen zu sein, bis an jenem Sommertag in diesem Tunnel ein dunkler Schatten über sie gefallen war. Aber vielleicht sah man selbst die glücklichsten Erinnerungen nur durch eine rosa Brille.
Les Brodie. Er könnte ihm erzählen, wie es vorher gewesen war. Denn Les hatte das, was passiert war, nicht durch und durch verkorkst. Gut, es hatte ihn zeitweise aus der Bahn geworfen, er hatte eine etwas wilde Phase gehabt, aber nun war er Familienvater mit einem erfolgreichen Installationsbetrieb. Ray Lennox ist der Verstörte. Les hat es einfach absorbiert und sein Leben weitergelebt. Was wäre passiert, wenn er, Lennox, es gewesen wäre, den diese pädophilen Knastbrüder missbraucht hätten? Alles was er getan hatte, war ein bisschen Schwanz zu lutschen. Seine Schultern zucken vor hässlicher Heiterkeit, die Vorstellung erscheint ihm kurz so freundlich und slapstickhaft wie eine Pantomine im King’s Theatre; keine Sache, wegen der man einen Kreuzzug unternimmt. Wie hätte er reagiert, sich entwickelt, wären ihre Rollen vertauscht gewesen? Wahrscheinlich noch viel schlimmer, denkt er düster, während er an seinem Orangensaft nippt und sich eigentlich einen Margarita wünscht, aber kein Vertrauen in sich hat. Er war der eigentliche Verrückte, so vereinnahmt von seiner Angst, dass er gar nicht mitgekriegt hatte, wie viel Angst er Dearing und der Kinderschänderbande von Anfang an eingejagt hatte.
Eins weiß er gewiss: Amerika ist ein viel komplizierteres Land, als er ihm bei seinen vorherigen Besuchen zugebilligt hatte. Es ist mehr als bloß ein Land mit großen Autos und seltsamen Sportarten. Oder ein Land, in dem selbst gefeierte Autoren kein Buch schreiben können, ohne darin Jell-O zu erwähnen, und Tiere im Kino athletische Glanzleistungen hinlegen. Und über sich selbst hatte er auch einwenig gelernt. Er hatte sich oft hinter dem Mäntelchen calvinistischer Düsternis verborgen, den sein Volksstamm trug wie ein Plaid, wohl wissend, dass dem Herzen ungeachtet aller Einbildung im Leben bittere Lektionen erteilt werden. Nun würde er Schwierigkeiten haben, all die Jahre als passiver Stoiker abzuschütteln.
– Na Gott sei Dank, ich bin am Verhungern, sagt Ginger und nimmt eine Speisekarte auf, als Trudi und Tianna aufgekratzt zusammen ins Restaurant gehüpft kommen, in den Händen tütenweise Storys von der Art, die Lennox verabscheut. In der letzten Woche hatten sie viel Zeit miteinander verbracht,
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