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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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Ungeschminkt wurde die unstatthafte, heftige Leidenschaft zwischen den beiden Helden Euryalus, einem jungen Prinzen im Gefolge des Kaisers, und der schönen, mit einem alten Sieneser Grafen unglücklich verheirateten Lucretia dargestellt. Andreas Bedauern darüber, dieses köstliche Werk zu schnell wieder veräußert zu haben, verwandelte sich in Zorn, als er vom Schicksal des Verfassers erfuhr. Dieser Enea Silvio Piccolomini war 1458 unter dem Namen Pius II. zum Papst gewählt worden. Stellen Sie sich vor, welchen Preis wir für ein Werk dieser Art hätten erhalten können, wenn wir armen Ahnungslosen gewusst hätten, dass sich hinter dem charmanten Familiennamen ein… päpstlicher Herrscher verbarg.
    Aus Bewunderung für die Druckqualität und die Eleganz derDrucklettern hatte ich mir sorgsam die Namen der beiden Verleger notiert: Dirk Martens und Johannes van Westfalen.
    Als ich nach Löwen kam, erkundigte ich mich zuerst nach ihnen. Man wies mich darauf hin, dass diese beiden Meister nun getrennte Wege gingen und Martens sein Geschäft in der Hafenstadt Antwerpen weiterführte. Ich begab mich also zu dem, der geblieben war.
    Dieser Johannes empfing mich anfangs aus bloßer Höflichkeit. Kurze Zeit später hatte sich seine Freundlichkeit in lebhaftes Interesse verwandelt. Er stellte mir Fragen zu den Ozeanen, denn er kannte keinen. Am Abend waren wir Freunde.
     

    Während meines gesamten Aufenthalts in Löwen begegnete ich täglich Menschen, die sich zu meinem Erstaunen nicht im Geringsten für das Meer interessierten. Andere Sorgen trieben sie um und schienen ihre Tage ebenso auszufüllen wie einen Gutteil ihrer Nächte, wie die große Anzahl von Kerzenstummel bezeugte, die ein Karren jeden Morgen zur Müllhalde fuhr.
    Verdutzt und, um die Wahrheit zu sagen, auch ein wenig erleichtert entdeckte ich, dass man sich mit Leib und Seele auch anderen Aufgaben verschreiben konnte als der, westwärts einen Seeweg nach Indien zu finden.
     

    Um Ihnen eine Vorstellung von der Atmosphäre zu geben, die in dieser Stadt herrschte, beschreibe ich Ihnen eine Szene. Ein Dutzend weitere, ebenso aussagekräftige sind mir in Erinnerung.
    Plötzlich klopft es an die Tür. Ohne die Antwort abzuwarten, tritt jemand ein, ein blutjunger Mann mit lockigem Haar. Er hat die Hände hochgehoben und wendet sie hin und her wie ein Puppenspieler.
    «Er kommt, er kommt!»
    Der Bibliothekar springt mit einem Satz auf und eilt trotz seiner schwachen Konstitution – er ist mager wie ein Skelett – nach draußen. Eine Menschenschar nähert sich: ein Mann, dessen staubige Kleidung von einer langen Reise zeugt, umgeben von Studenten, die ihn fröhlich eskortieren.
    Auf der Schwelle zu seinem Haus stehend, streckt der Bibliothekar ihm die Hände entgegen, so wie man berühmte Gäste empfängt. Der Staubige hüpft plötzlich von einem Bein aufs andere, als hätte er Flöhe. Doch er will einfach etwas aus einer Tasche holen – aber was? Endlich fischt er unter Applaus einen in Papierfetzen gewickelten Gegenstand aus den Tiefen der Tasche und legt ihn in die Hände, die sich ihm entgegenstrecken. Während mitfühlende Seelen den Staubigen fortziehen und ihn mit Bier belohnen, bis sein Durst gestillt ist, kehren wir in die Stille der Bibliothek zurück. Das Bündel wird auf den längsten Tisch gelegt.
    Zwei Kerzenständer werden gebracht. Langsam beginnt man das Paket aufzuschnüren. Ein Einband wird sichtbar. Ich beuge mich vor: Roger Bacon,
Summa de sophismatibus et distinctionibus.
    «Das ist es», murmelt der Bibliothekar, «darauf haben wir so lange gewartet. Ich danke Dir, Gott, dass Du es für richtig erachtet hast, dieses Werk unversehrt unserer Universität zukommen zu lassen!»
    «Amen», antworten diejenigen, die neben mir stehen.
    Ein Laienbruder bringt eine Wasserschale. Jeder muss sich darin die Hände waschen, bevor er über das Werk streicheln darf.
    Dann nimmt es der Bibliothekar, hebt es in die Höhe und zeigt ihm die Bücherregale, auf denen die wertvollsten Bücher aufgereiht sind:
    «Willkommen bei den Euren!»
    Bis jetzt war ich still wie bei einer religiösen Feier, fasziniert von diesem Ritual und der Inbrunst, die es ausstrahlte. Eine Frage brannte mir auf den Lippen. Ich konnte mich nicht lange zurückhalten:
    «Begrüßt Ihr
alle
Bücher so?»
    «Sicher, wenn sie von so weit her kommen und so viel Wissen bergen.»
    Gedankenvoll kehrte ich in meine Herberge zurück.
    Wenn Löwen ein Hafen mitten auf dem Festland war, dann

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