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Cristóbal

Cristóbal

Titel: Cristóbal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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keiner anderen Zeit.
    Vorsicht, liebe Dominikaner! Verachtet nicht zu schnell Eure Mitmenschen. Ihr müsst nur die zarteren Bedürfnisse, die rührende Zerbrechlichkeit in ihrem tierischen Treiben erkennen.
    Die Feuchtigkeit ihrer Schenkel, die Zartheit ihrer Haut, die Flinkheit ihrer Münder waren nicht die einzigen Gründe für den Erfolg dieser Frauen. Waren die ersten Tollheiten einmal befriedigt, suchten die Seemänner diese Körperregionen keineswegs mehr am meisten auf.
    Werdet Ihr mir glauben, wenn ich Euch sage, dass sie vor allem Ohren suchten? Nicht, um sich mit ihnen – trotz des ungerührten Blicks, den du aufgesetzt hast, kenne ich deine schlüpfrigen Gedanken, Bruder Hieronymus, ich weiß, was du dir ausmalst – irgendeiner widernatürlichen, aus Afrika eingeführten Praktik hinzugeben, sondern einfach, um Gehör zu finden.
    Was ist ein Ohr? Ich habe mich schon immer leidenschaftlich für diese großen, flachen Muscheln interessiert, die rechts und links am menschlichen Schädel hängen.
    Ich untersuchte diese Muscheln schon bei meinem Bruder, als ich noch keine zehn Jahre alt war. Wie ließ sich erklären, dass er alles aufschnappte, was mit dem Meer und mit Seereisen zu tun hatte, noch die fernste geflüsterte Unterredung am anderen Ende des Hafens, während er allem Übrigen gegenüber taub, gleichgültig blieb? Zum Beispiel gegenüber den bisweilen schlauen Vorschlägen, die ihm sein lieber kleiner Bartolomeo machte?
    Eines Nachts, als er schlief, nutzte ich die Gelegenheit und machte mich mit einer Kerze über dieses Rätsel her. Ich verbrachte viel Zeit damit, diese seltsamen Muscheln zu betrachten, und achtete dabei sorgfältig darauf, dass kein heißes Wachs heruntertropfte. Und schließlich gab ich es auf. Weder die beiden dunklen (nicht sehr sauberen) Löcher noch die rosigen Falten und Buchten hatten ihr Geheimnis preisgegeben.
    Und jetzt gaben mir diese merkwürdigen Muscheln erneut Fragen auf. Welchen besonderen Vorzug besaß besagte Ursula, dass sie die Seemänner mit all ihrer Traurigkeit so sehr anzog?
    Sie war weder schön noch jung, sie besaß keine Rundungen, wie sie Männern gefallen, und sie zeigte nicht den geringsten Erfindungsreichtum bei ihren Diensten: Sie liebkoste ohne Rhythmus, sie lutschte, wie man gähnt, und wenn sie die Beine öffnete, summte sie Kirchenlieder.
    Aber sie hörte gerne zu.
    «Na, mein Großer, was hast du mir denn zu erzählen?»
    Und sie streckte ihr linkes Ohr hin, denn das rechte war, woran sie gerne erinnerte, von ihrem Vater zerfetzt worden, diesem Mistkerl, der sie immer windelweich geprügelt hatte – verflucht sei er und tausend Jahre lang von zehntausend Dämonen gemartert!
    Diese seltene Spezialität sprach sich bald herum, und ihre Kundschaft nahm ständig zu. Zwischen uns entstand eine Art Freundschaft. Denn ich war der Erste, der ihr die Umkehrung ihres gewöhnlichen Dienstes anbot: sie (teuer) zu bezahlen, um ihr zuhören zu dürfen.
    Ihr linkes Ohr zog die Männer nur aus einem einzigen, schlichten Grund so sehr an: Sie trafen auf dem ehelichen Kopfkissen nichts Vergleichbares an. Bei ihren Frauen fanden nur frohe Botschaften Gehör: die Freude des Wiedersehens, das Versprechen, niemals wieder wegzugehen, der Stolz, das Herrschaftsgebiet Portugals und der Christenheit vergrößert zu haben. Das Wichtigste nicht zu vergessen: die genaue Liste von geldwerten Vorteilen, von Vorteilen für den gesellschaftlichen Stand und die natürlicheAnerkennung, die die Frauen aus der langen Abwesenheit ihres Ehemanns ziehen würden.
    Für alle anderen Dinge waren die Ohren der Frauen taub, und das umso mehr, als die Seefahrer sich erlaubten, an die Schrecken ihrer Fahrt zu erinnern.
    Kaum machte einer den Mund auf, um zu erzählen, wie es hinter den Kulissen aussah, um die Angst und das Leiden zu schildern, da verdonnerte ihn seine Frau schon zum Schweigen:
    «Ja, und? Hast du auch daran gedacht, was ich durchgemacht habe in all den Jahren, die ich mit den fünf Kindern allein war?»
    Halten wir an dieser Stelle fest, dass Ursula mir im Laufe ihrer Berichte ein so trostloses Bild der Ehe vor Augen führte, dass ich ihr eine Abneigung verdanke, die ich nie loswerden konnte.
    Trotz ihrer Lumpen machten die an Land gegangenen Entdecker etwas her. Sie erzählten nur, was man von ihnen hören wollte: von Wundern und Eroberungen. Sie hatten lange, viel zu lange ausgehalten, um nicht den Lohn für ihre Leiden ernten zu wollen: den Ruhm und die Blicke in seinem

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