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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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gegeben. Es gab keine Schlussbesprechung, weil seine Geschichte genau
das war: eine Geschichte.
    Für ihn gab es nur noch eine Frage zu klären:
Warum hatte Richards ihn nicht einfach gleich erschossen?
    Das Zimmer, in das sie ihn eingesperrt hatten,
sah aus wie in einem billigen Motel, aber schlichter: kein Teppichboden, keine
Vorhänge an dem einzigen Fenster, schweres, am Boden verschraubtes
Anstaltsmobiliar. Ein winziges Bad mit einem eiskalten Fußboden. Ein Gewirr von
Drähten an der Wand, wo einmal ein Fernseher gewesen war. Die Tür zum Flur war
dick und wurde mit einem Summer von außen geöffnet. Seine einzigen Besucher
waren die Männer, die ihm die Mahlzeiten brachten: schweigsame, schwerfällige
Gestalten in braunen Overalls ohne irgendeine Kennzeichnung, die ihm das
Tablett mit seinem Essen auf den kleinen Tisch stellten, an dem Wolgast den
größten Teil des Tages mit Sitzen und Warten verbrachte. Wahrscheinlich tat Doyle
das Gleiche, wenn Richards ihn nicht schon erschossen hatte.
    Die Aussicht draußen war nicht weiter
bemerkenswert, ein kümmerlicher Kiefernwald, aber manchmal stand Wolgast
trotzdem stundenlang am Fenster und schaute hinaus. Es wurde Frühling. Der Wald
troff von schmelzendem Schnee, und überall hörte man plätscherndes Wasser; es
tropfte von Dächern und Ästen und lief in die Abflüsse. Wenn er sich auf die
Zehenspitzen stellte, konnte er hinter den Bäumen einen Zaun erkennen, vor dem
sich Gestalten bewegten. Eines Nachts am Anfang der vierten Woche seiner
Gefangenschaft zog ein schweres Unwetter durch, von fast biblischer Gewalt: Der
Donner rollte die ganze Nacht hindurch über die Berge, und als er am Morgen aus
dem Fenster schaute, sah er, dass der Winter vorbei war. Der Regen hatte ihn
fortgeschwemmt.
    Eine Zeitlang hatte er versucht, mit den Männern
zu sprechen, die ihm das Essen und jeden zweiten Tag einen sauberen OP-Anzug
und Schlappen brachten. Er hatte zumindest versucht, sie nach ihren Namen zu fragen,
aber keiner hatte auch nur ein einziges Wort geantwortet. Sie wirkten plump;
ihre Bewegungen waren schwerfällig und ungenau, ihre Gesichter betäubt und
phlegmatisch wie die der Untoten in einem alten Film. Wandelnde Leichen, die
sich vor einem Farmhaus versammelten und stöhnend über die eigenen Füße
stolperten, gekleidet in die zerfetzten Uniformen ihres früheren Lebens: Als
Junge hatte er solche Filme geliebt, ohne zu begreifen, wie wahr sie
tatsächlich waren. Was, dachte Wolgast, waren die lebenden Toten anderes als
eine Metapher für den langen, planlosen Marsch des mittleren Alters?
    Es war möglich, begriff er, dass das Leben eines
Menschen nichts weiter war als eine lange Serie von Fehlern, und das Ende,
wenn es dann kam, war auch nur ein weiteres Ergebnis falscher Entscheidungen.
Das Dumme war, die meisten dieser Fehler waren von anderen Leuten geborgt. Man
übernahm ihre schlechten Ideen und machte sie aus irgendwelchen Gründen zu
seinen eigenen. Das war die Wahrheit, die er auf dem Karussell mit Amy erfahren
hatte, obwohl der Gedanke schon seit einer Weile in ihm keimte, eigentlich fast
seit einem Jahr. Jetzt hatte Wolgast mehr als genug Zeit, um darüber
nachzudenken. Man konnte einem Mann wie Anthony Carter nicht in die Augen
sehen, ohne es zu bemerken. Es war, als habe er an jenem Abend in Oklahoma die
erste richtige Idee seit Jahren gehabt. Die erste seit Lila, seit Eva. Aber Eva
war gestorben, drei Wochen vor ihrem ersten Geburtstag. Und seit jenem Tag
wandelte er auf Erden wie die lebenden Toten oder wie ein Mann, der einen Geist
bei sich trug, den leeren Raum in seinen Armen, wo Eva gewesen war. Darum
hatte er so gut mit Carter und den andern umgehen können: Er war genau wie sie.
    Er fragte sich, wo sie war und was mit ihr
passierte. Hoffentlich war sie nicht einsam und hatte keine Angst. Das war mehr
als eine Hoffnung: Er bewahrte diesen Gedanken mit der Inbrunst eines Gebets
und versuchte, mit der Kraft seines Geistes zu bewirken, dass es so war. Wolgast
fragte sich, ob er sie je wiedersehen würde, und bei diesem Gedanken stand er
von seinem Stuhl auf und trat ans Fenster, als wolle er sie dort draußen in den
schrägen Schatten der Bäume suchen. Und irgendwie vergingen wieder ein paar
Stunden, und nur der Wechsel der Lichts, das durch das Fenster hereinfiel,
markierte den Fortgang der Zeit zusammen mit dem Kommen und Gehen der Männer
mit seinem Essen, das er meist kaum anrührte. Nachts schlief er einen
traumlosen Schlaf, der ihn

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