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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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die erste von vielen Zellen in seinem
Leben war, kam ihm gar nicht so übel vor. Er fragte sich, ob Anthony Carter
genauso empfunden, ob er sich auch gesagt hatte: Dies
ist von jetzt an mein Leben.
    Price kam mit dem Schlüssel in der Hand ans
Gitter. »Die State Police ist unterwegs«, sagte er und wippte auf seinen
Absätzen vor und zurück. »Hört sich an, als hätten Sie in ein echtes
Wespennest gestochen.« Er warf zwei Paar Handschellen durch das Gitter. »Ich
schätze, Sie wissen, wie man damit umgeht.«
    Doyle und Wolgast legten sich die Handschellen
an. Price schloss die Zellentür auf und führte sie nach vorn ins Büro. Amy saß
auf einem Klappstuhl vor dem Schreibtisch; sie hatte ihren Rucksack auf dem
Schoß und aß eine Eiswaffel. Eine großmütterliche Frau in einem grünen Hosenanzug
saß neben ihr und zeigte ihr ein Malbuch.
    »Er ist mein Daddy«, sagte Amy zu ihr.
    »Der da?« Die Frau drehte sich um. Sie hatte
dunkel gemalte Augenbrauen, und ihr rabenschwarzes Haar saß wie ein Helm auf
dem Kopf. Es war eine Perücke. Sie sah Wolgast verwundert an und wandte sich
dann wieder Amy zu. »Der Mann da ist dein Daddy?«
    »Ist schon gut«, sagte Wolgast.
    »Das ist mein Daddy«, wiederholte Amy. Ihre
Stimme klang streng und belehrend. »Daddy, wir müssen jetzt
sofort gehen.«
    Price hatte ein Fingerabdruckset hervorgeholt,
und hinter ihnen stellte Kirk Leinwand und Kamera für die
erkennungsdienstlichen Fotos auf.
    »Was soll das jetzt?«, fragte Price.
    »Das ist eine lange Geschichte«, sagte Wolgast
nur.
    »Daddy, sofort«, sagte
Amy.
    Wolgast hörte, wie hinter ihm die Tür aufging.
Die Frau hob den Kopf. »Kann ich Ihnen helfen?«
    »Hey, guten Morgen«, sagte eine Männerstimme,
die irgendwie vertraut klang. Price hielt Wolgasts rechte Hand beim Handgelenk
fest, um seine Finger über das Stempelkissen zu rollen. Dann sah Wolgast Doyles
Gesicht, und er wusste Bescheid.
    »Ist hier das Büro des Sheriffs?«, fragte
Richards. »Hey, alle miteinander. Wow, sind die Dinger alle echt? Das sind
aber viele Gewehre. Hier, ich muss Ihnen was zeigen.«
    Wolgast drehte sich um und sah gerade noch, wie
Richards der Frau in die Stirn schoss. Ein einziger Schuss aus nächster Nähe,
durch den langen Schalldämpfer zu einem leisen Schlag gedämpft: Sie kippte auf
dem Stuhl zurück, die Augen erschrocken aufgerissen, die Perücke verrutscht. Ein
zarter Blutschleier wehte nass hinter ihr auf den Boden. Ihre Arme hoben und
senkten sich und lagen dann still.
    »Sorry«, sagte Richards und verzog schmerzlich
das Gesicht. Er trat um den Schreibtisch herum. Es roch stechend nach
Schießpulver. Price und Kirk standen starr vor Angst und mit offenen Mündern
da. Vielleicht war es auch nicht Angst, was sie empfanden, sondern stumme
Fassungslosigkeit. Als seien sie plötzlich in einen Film hineingeraten, den sie
nicht verstanden.
    »Hey«, sagte Richards und hob die Pistole.
»Stehen Sie still. Genau so. Superduper.« Er erschoss sie beide.
    Niemand rührte sich. Alles hatte sich mit einer
seltsamen, traumartigen Langsamkeit abgespielt und war doch nach einem
Augenblick vorbei. Wolgast sah die Frau an und dann die beiden Toten auf dem
Boden, Price und Kirk. Wie überraschend der Tod war, wie unwiderruflich und
endgültig. Amy starrte auf das Gesicht der Toten. Sie hatte nur zwei Schritte
entfernt gesessen, als Richards die Frau erschossen hatte. Der Mund der Frau
stand offen, als wollte sie etwas sagen. Blut rieselte über ihre Stirn
herunter und verteilte sich in den tiefen Falten ihres Gesichts, verbreitete
sich fächerförmig wie ein Flussdelta. Amys Hand umklammerte die schmelzenden
Überreste ihrer Eiswaffel, und wahrscheinlich lag ein wenig davon jetzt in
ihrem Mund und überzog ihre Zunge mit seiner Süße. Eine kleine
Absonderlichkeit, dachte Wolgast: Für den Rest ihres Lebens würde der Geschmack
von Eiscreme dieses Bild heraufbeschwören.
    »Fuck!«, sagte Doyle. »Sie haben
sie erschossen, verdammt!«
    Price war mit dem Gesicht voran hinter seinem
Tisch zu Boden gefallen. Richards kniete neben dem Toten nieder und klopfte
seine Taschen ab, bis er den Schlüssel für die Handschellen gefunden hatte. Er
warf ihn Wolgast zu und winkte Doyle müde mit seiner Waffe zu, als dieser die
Vitrine mit den Schrotflinten beäugte.
    »Würde ich nicht machen«, warnte Richards, und
Doyle setzte sich.
    »Sie werden uns nicht erschießen?«, sagte
Wolgast, als er die Hände frei hatte.
    »Vorläufig nicht«, sagte

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