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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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morgens benommen aufwachen ließ; dann waren seine
Arme und Beine schwer wie Blei. Er fragte sich, wie viel Zeit er noch hatte.
    Am Morgen des vierunddreißigsten Tags kam
jemand. Es war Sykes, aber er war verändert. Der Mann, den er vor einem Jahr
kennengelernt hatte, war gepflegt gewesen. Der hier trug immer noch die gleiche
Uniform, aber er sah aus, als habe er darin unter einer Autobahnbrücke geschlafen.
Die Uniform war zerknautscht und fleckig; graue Bartstoppeln wuchsen an Kinn
und Wangen, und seine Augen waren blutunterlaufen wie die eines Boxers nach
mehreren Runden gegen einen übermächtigen Gegner. Er ließ sich schwer auf
einen Stuhl an Wolgasts Tisch fallen, verschränkte die Hände, räusperte sich
und sprach.
    »Ich komme, um Sie um einen Gefallen zu bitten.«
    Wolgast hatte seit Tagen kein Wort mehr gesprochen.
Als er antworten wollte, war seine Luftröhre halb verstopft, zugequollen nach
dem langen Schweigen. Seine Stimme war ein Krächzen.
    »Mit Gefälligkeiten bin ich fertig.«
    Sykes atmete tief ein. Ein schaler Geruch ging
von ihm aus, nach getrocknetem Schweiß und Polyester. Einen Moment lang ließ
er den Blick in dem kleinen Zimmer umherwandern.
    »Wahrscheinlich wirkt das alles ein wenig ...
undankbar. Das gebe ich zu.«
    »Fuck you.« Es
bereitete Wolgast ein enormes Behagen, diese Worte auszusprechen.
    »Ich bin wegen des Mädchens hier, Agent.«
    »Ihr Name«, sagte Wolgast, »ist Amy.«
    »Ich weiß, wie sie heißt. Ich weiß eine Menge
über sie.«
    »Sie ist sechs. Sie isst gern Pfannkuchen und
fährt gern Karussell. Sie hat einen Stoffhasen namens Peter. Sie sind ein
herzloses Arschloch, wissen Sie das, Sykes?«
    Sykes zog einen Umschlag aus seiner Jackentasche
und legte ihn auf den Tisch. Er enthielt zwei Fotos. Das eine war ein Bild von
Amy und war, vermutete Wolgast, im Konvent aufgenommen worden. Das andere stammte
aus einem Highschool-Jahrbuch, und die junge Frau auf dem Foto war
offensichtlich Amys Mutter. Das gleiche dunkle Haar, der gleiche zarte
Knochenbau des Gesichts, die gleichen tiefliegenden, melancholischen Augen, die
aber im Augenblick des Fotografierens von einem warmen, erwartungsvollen Licht
erfüllt waren. Wer war dieses Mädchen? Hatte sie Freundinnen, eine Familie,
einen Freund? Ein Lieblingsfach in der Schule, eine Sportart, die sie liebte
und in der sie gut war? Hatte sie Geheimnisse, eine Geschichte, die niemand
kannte? Was erhoffte sie von ihrem Leben? Sie war halb von der Kamera abgewandt
und schaute über die Schulter ins Objektiv, und was sie trug, sah aus wie ein
Ballkleid, hellblau und schulterfrei. Am unteren
Rand des Bildes stand: »Mason Consolidated High School, Mason, IA«.
    »Ihre Mutter war eine Prostituierte. In der
Nacht, bevor sie Amy im Konvent zurückließ, erschoss sie einen Freier vor dem
Haus einer Studentenverbindung. Nur zur Information.«
    Und?, wollte Wolgast sagen. War das Amys Schuld?
Aber das Bild der Frau - eigentlich noch keine Frau, sondern selbst noch ein
Mädchen - bremste seinen Zorn. Vielleicht sagte Sykes nicht mal die Wahrheit.
Er legte das Foto hin. »Was ist aus ihr geworden?«
    Sykes hob die Schulter. »Das weiß niemand.
Verschwunden.«
    »Und die Nonnen?«
    Ein Schatten huschte über Sykes' Gesicht.
Wolgast sah, dass er ins Schwarze getroffen hatte, ohne es zu wollen. Mein
Gott, dachte er. Die Nonnen auch? War es Richards gewesen oder jemand anders?
    »Ich weiß es nicht«, sagte Sykes.
    »Sehen Sie sich doch an«, sagte Wolgast. »Doch,
Sie wissen es.«
    Sykes sagte nichts weiter, und sein Schweigen
machte deutlich, dass dieses Thema beendet war. Er
rieb sich die Augen, schob die Fotos wieder in den Umschlag und steckte ihn
ein.
    »Wo ist sie?«
    »Wolgast, die Sache ist die ...«
    »Wo ist Amy?«
    Sykes räusperte sich. »Deshalb bin ich ja hier,
wissen Sie«, sagte er. »Der Gefallen. Wir glauben, dass Amy vielleicht stirbt.«
     
    Wolgast durfte keine Fragen stellen. Er durfte
mit niemandem sprechen, sich nicht umsehen und Sykes' Gesichtsfeld nicht
verlassen. Eine Eskorte von zwei Soldaten führte ihn durch die kühle
Morgensonne über das Gelände. Die Luft roch nach Frühling, und sie fühlte sich
auch so an. Nach fast fünf Wochen in seinem Zimmer sog Wolgast sie mit tiefen,
gierigen Atemzügen in seine Lunge. Das Sonnenlicht tat seinen Augen weh.
    Im Chalet führte Sykes ihn in einen Aufzug, und
sie fuhren vier Etagen nach unten. Dort traten sie in einen leeren Korridor
hinaus, spartanisch weiß wie in einem

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