Cronin, Justin
lag, dass diese Namen und die Person, die sie bezeichneten, jemand
anders zu sein schienen, nicht er. Jemand, der gestorben war und nur seinen
kranken Körper zurückgelassen hatte, der sich an seiner Stelle hier wand.
Die Übelkeit fühlte sich an wie eine Ewigkeit.
Das war das Wort, das ihm einfiel. Nicht dass sie ewig dauerte, sondern dass
sie die Zeit selbst war. Als sei der Begriff der Zeit in ihm, in jeder Zelle
seines Körpers. Sie war eine Million winziger Flammen, die niemals erlöschen
würden. Das grässlichste Gefühl der Welt. Jemand hatte ihm gesagt, es werde ihm
bald besser gehen, viel besser. Eine Zeitlang hatte er sich an diesen Worten
festgehalten. Aber jetzt wusste er, dass es nicht stimmte.
Verschwommen nahm er Bewegungen um sich herum
wahr, das Kommen und Gehen, das Tasten und Stochern der Männer in den Raumanzügen.
Er wollte Wasser haben, nur einen kleinen Schluck Wasser, um seinen Durst zu
löschen, aber als er darum bat, hörte er keinen Laut aus seinem Mund, nur das
Tosen und Klingen in seinen Ohren. Sie hatten ihm eine Menge Blut abgenommen -
literweise, so kam es ihm vor. Der Mann namens Anthony hatte sein Blut von Zeit
zu Zeit verkauft; er hatte auf den Gummiball gedrückt und zugeschaut, wie der
Beutel sich damit füllte, und mit Staunen hatte er seine Dichte gesehen, seine
satte rote Farbe, und wie lebendig es aussah. Nie mehr als einen halben Liter,
bevor sie ihm Kekse und ein paar zusammengefaltete Geldscheine gegeben und ihn
wieder weggeschickt hatten. Doch jetzt füllten die Männer in den Anzügen einen
Beutel nach dem andern damit, und das Blut war anders, auch wenn er nicht sagen
konnte, inwiefern. Das Blut in seinem Körper war lebendig, aber er glaubte
nicht, dass es noch seins war. Es gehörte jemandem oder etwas anderem. Es wäre
gut gewesen, jetzt zu sterben.
Mrs Wood, die hatte es gewusst. Nicht nur für
sich selbst, sondern auch für Anthony, und bei diesem Gedanken war er für eine Sekunde wieder Anthony. Es war gut, zu sterben.
Es hatte etwas Leichtes an sich, ein Loslassen wie in der Liebe.
Er versuchte diesen Gedanken festzuhalten, den
Gedanken, bei dem er noch Anthony war, aber er konnte es nicht. Stück für Stück
entglitt er ihm wie ein Seil, das langsam durch seine Hände gezogen wurde. Wie
viele Tage vergangen waren, wusste er nicht. Irgendetwas passierte mit ihm,
doch es ging den Männern in den Raumanzügen nicht schnell genug. Sie sprachen
immer wieder darüber, sie befühlten und betasteten und stachen ihn und nahmen
ihm noch mehr Blut ab. Und er hörte jetzt noch etwas anderes, ein leises
Murmeln wie von Stimmen, aber es kam nicht von den Männern in den Raumanzügen.
Die Laute kamen aus weiter Ferne und zugleich aus seinem Innern. Keine Worte,
die er kannte, aber trotzdem Worte; es war eine Sprache, was er da hörte, es
hatte Ordnung, Sinn und Verstand. Und nicht nur einen Verstand: zwölf. Aber
eine Stimme war mehr als die andern - nicht lauter, sondern mehr. Die eine Stimme, und dann dahinter die andern, zwölf
insgesamt. Sie waren in seinem Blut, und auch sie waren Ewigkeit.
Er wollte etwas antworten.
»Die Absperrung herunter!«, schrie jemand. »Er
kippt!«
Die Gurtfesseln waren gar nichts, sie waren
Papier. Die Nieten platzten aus dem Tisch und schwirrten durch den Raum.
Zuerst seine Arme, dann die Beine. Der Raum war dunkel, doch seinen Augen war
nichts verborgen, denn die Dunkelheit war jetzt ein Teil von ihm. Und in ihm,
tief im Innern, entfaltete sich ein gewaltiger, alles verschlingender Hunger.
Er wollte die Welt fressen. Wollte alles in sich aufnehmen, sich davon ausfüllen
lassen und wieder ganz werden. Die Welt ewig machen, wie er es war.
Ein Mann rannte zur Tür.
Anthony fiel von oben auf ihn herab. Ein Schrei,
und dann lag der Mann stumm in feuchten Fetzen auf dem Boden. Die wunderbare
Wärme des Blutes! Er trank und trank.
Der, der ihm gesagt hatte, es werde ihm bald
besser gehen - er hatte sich nicht geirrt.
Anthony Carter hatte sich in seinem ganzen Leben
nie besser gefühlt.
Pujol, dieser dumme Sack, war tot.
Sechsunddreißig Tage - so lange hatte es
gedauert, bis Carter gekippt war, länger als bei allen andern, seit sie
angefangen hatten. Aber Carter galt auch als der Übelste von allen, aus der
letzten Phase, bevor das Virus seine endgültige Form erreichte. Die dann das
Mädchen bekommen hatte.
Richards persönlich interessierte sich weder so
noch so für das Mädchen. Sie würde überleben oder eben nicht. Sie
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