Cronin, Justin
ein
davonsegelndes Schiff, das hinter der Krümmung der Erde verschwand und sein
altes Leben im Laderaum mit sich nahm; als die kreisenden Sterne auf nichts
herabschauten und der Mond auf seiner Bahn seinen Namen nicht mehr wusste und
nichts mehr übrig war als das große Meer des Hungers, auf dem er für alle Zeit
dahintrieb - da war noch immer in seinem tiefsten Innern dies: ein Jahr. Der
Berg und der Wechsel der Jahreszeiten, und Amy. Amy und das Jahr Null.
Sie erreichten das Camp im Dunkeln. Wolgast
legte die letzte Meile langsam zurück. Er folgte den Strahlen der
Scheinwerfer, wo sie durch die Bäume brachen, bremste ab, um im Kriechtempo
durch die schlimmsten Schlaglöcher zu fahren, durch die tiefen Rinnen, die das
Schmelzwasser hinterlassen hatte. Die tropfenden Finger der Äste kratzten über
Dach und Fenster. Der Wagen war Schrott, ein uralter Corolla mit dicken,
grellen Felgen und einem Aschenbecher voll gelber Zigarettenstummel. Wolgast
hatte ihn auf einem Trailer Park in der Nähe von Laramie gestohlen und dafür
den Lexus zurückgelassen, mit dem Schlüssel im Zündschloss und einem Zettel
auf der Ablage: Behalten Sie ihn, er gehört Ihnen. Ein
alter, angeketteter Köter, zu müde zum Bellen, hatte gleichgültig zugesehen,
wie Wolgast die Zündung kurzschloss, Amy aus dem Lexus in den Toyota brachte
und auf den mit Fastfood-Verpackungen und leeren Zigarettenschachteln
vollgemüllten Rücksitz legte.
Einen Moment lang hatte Wolgast sich gewünscht,
er könnte dabei sein und das Gesicht des Besitzers sehen, wenn er am nächsten
Morgen aufwachte und feststellte, dass seine alte Mühle durch ein Achtzigtausend-Dollar-Sportcoupe
ersetzt worden war, wie Cinderellas Kürbis sich in eine Kutsche verwandelt
hatte. Wolgast hatte einen solchen Wagen in seinem ganzen Leben noch nicht
gefahren. Hoffentlich würde der neue Besitzer, wer immer er sein mochte, sich
wenigstens einmal eine kleine Spritztour gönnen, bevor er ihn still und leise
verschwinden ließ.
Der Lexus gehörte Fortes. Hatte Fortes gehört, korrigierte Wolgast sich, denn Fortes war
tot. Fortes, James B. - Wolgast hatte seinen Vornamen erst erfahren, als er
ihn in der Zulassung gelesen hatte. Eine Adresse in Maryland, und das
bedeutete wahrscheinlich USAMRIID oder das National Institute of Health.
Wolgast hatte die Zulassung an einem Weizenfeld irgendwo an der Grenze zwischen
Colorado und Wyoming aus dem Fenster geworfen. Aber den restlichen Inhalt der
Brieftasche, die auf dem Boden unter dem Fahrersitz gelegen hatte, hatte er
behalten: etwas mehr als sechshundert Dollar in bar und eine
Titanium-Visa-Karte.
Aber das alles war viele Stunden her, und die
Strecke, die hinter ihnen lag, hatte die Fahrt noch länger erscheinen lassen.
Colorado, Wyoming, Idaho - Letzteres in völliger Dunkelheit. Er hatte nur das
gesehen, was die Lichtkegel des Corolla beleuchtet hatten. Bei Sonnenaufgang am
zweiten Morgen waren sie nach Oregon gekommen, und im Laufe des Tages hatten
sie die faltigen Plateaus im kargen Inneren dieses Staates überquert. Auf den
Feldern und den goldenen, vom Wind zerzausten Hügeln ringsumher hatte der
violette Beifuß in voller Blüte gestanden. Um wach zu bleiben, fuhr Wolgast mit
offenem Fenster, und der süße Duft wirbelte in den Wagen, der Duft der
Kindheit, der Heimat. Am Nachmittag hatte er gespürt, dass der Motor des Toyota
sich zu plagen begann: Endlich ging es bergauf. Als es dunkel wurde, ragten die
Cascade Mountains vor ihnen auf, ein drohend aufragendes Gebirgsmassiv, das
mit seinen Sägezähnen die Strahlen der untergehenden Sonne zerschnitt, sodass
der Himmel im Westen in einer feurigen Collage aus Rot und Violett loderte wie
ein Fenster aus buntem Glas. Hoch oben glänzte das Eis auf den felsigen
Gipfeln.
»Amy«, sagte er. »Wach auf, Kleines. Schau
doch.«
Amy lag mit einer Baumwolldecke auf dem
Rücksitz. Sie war immer noch schwach, und die letzten zwei Tage hatte sie die
meiste Zeit geschlafen. Aber das Schlimmste schien vorbei zu sein. Ihre Haut
sah besser aus; die wächserne Blässe des Fiebers war weg. An diesem Morgen
hatte sie tatsächlich ein paar Bissen von dem Ei-Sandwich gegessen und ein
bisschen Schokoladenmilch getrunken; Wolgast hatte beides in einem Drive-in
gekauft. Aber eins war komisch: Sie war äußerst empfindlich gegen Sonnenlicht.
Es schien ihr Schmerzen zu bereiten, und das nicht nur in den Augen: Ihr ganzer
Körper zuckte davor zurück wie vor einem Stromschlag. An einer Tankstelle hatte
er
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