Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
Vom Netzwerk:
ihr eine Sonnenbrille besorgt - in Filmstar-Pink, die einzige, die so klein
war, dass sie ihr passte -, und dazu eine Truckermütze mit dem John
Deere-Logo, die sie sich tief über die Augen ziehen konnte.
Aber trotz Mütze und Sonnenbrille hatte sie den ganzen Tag über kaum einmal den
Kopf unter der Decke hervorgeschoben.
    Als sie seine Stimme hörte, erhob sie sich aus
dem Gezeitensog des Schlafs und schaute wie er nach vorn durch die
Windschutzscheibe. Noch immer trug sie die pinkfarbene Sonnenbrille, und sie
blinzelte im Sonnenlicht und legte beide Hände an die Schläfen. Der Wind, der
durch die offenen Fenster hereinwehte, ließ das lange Haar um ihr Gesicht
flattern.
    »Es ist ... hell«, sagte sie leise.
    »Die Berge«, sagte er.
    Auf den letzten paar Meilen folgte er seinem
Instinkt über unbefestigte Straßen, die sie immer tiefer in die bewaldeten
Bergschluchten führten. Eine verborgene Welt: Wo sie hinfuhren, gab es keine
Städte, keine Häuser, überhaupt keine Menschen. Zumindest hatte er es so in
Erinnerung. Die Tankanzeige ging gegen Null. Sie fuhren an einem
Gemischtwarenladen vorbei, an den Wolgast sich vage erinnerte, obwohl der Name
ihm nichts mehr sagte: »Milton's General Store / Jagd- und Angellizenzen«. Dann
begann der letzte Aufstieg. Drei Weggabelungen später war er am Rande der
Panik, weil er dachte, er habe sich verirrt, als plötzlich eine Reihe von kleinen
Details wie aus der Vergangenheit vor ihm aufstieg: eine bestimmte Steigung,
der Blick auf einen sternenübersäten Himmel hinter einer Kurve, und dann, unter
den Rädern des Toyota, die großräumige Akustik der lichten Höhe, als sie einen
Fluss überquerten. Alles so, wie es gewesen war, als er klein war und neben
seinem Vater saß, der ihn hinauf zum Camp fuhr.
    Ein paar Augenblicke später tat sich eine Lücke
zwischen den Bäumen auf. Am Straßenrand stand ein verwittertes Schild mit der
Aufschrift »Bear Mountain Camp«, und darunter hing an zwei rostigen Ketten eine
zweite Tafel. »Zu verkaufen«, stand darauf, und dazu der Name eines Maklers und
eine Telefonnummer in Salem. Das Schild war wie viele andere, die Wolgast am
Straßenrand gesehen hatte, von Gewehrkugeln durchlöchert.
    »Hier ist es«, sagte er.
    Die Zufahrt zum Camp war eine Meile lang. Sie
folgte dem Kamm einer hohen Böschung oberhalb des Flusses und führte dann um
eine Ansammlung von Felsen herum nach rechts und in den Wald. Er wusste, das
Camp war seit Jahren geschlossen. Würden die Gebäude überhaupt noch da sein?
Was würden sie vorfinden? Die verkohlten Ruinen eines verheerenden Brandes?
Verrottete Dächer, eingestürzt unter der Schneelast des Winters? Aber dann
tauchte es zwischen den Bäumen auf - das Gebäude, das die Jungen »Old Lodge«
genannt hatten, weil es schon damals alt gewesen war, und dahinter und
ringsherum die kleineren Nebengebäude und Hütten, alles in allem ungefähr ein
Dutzend. Jenseits davon ging der Wald weiter, und ein Pfad führte hinunter zum
See - ein halber Hektar spiegelglattes Wasser, nierenförmig aufgestaut von
einem Erddamm. Als sie auf die Lodge zufuhren, strichen die Scheinwerfer des
Toyota grell über die vorderen Fenster und erweckten für einen Augenblick die
Illusion, im Haus gingen die Lichter an, als habe man sie erwartet - als wären
sie nicht quer durch das Land gefahren, sondern durch die Zeit zurück, über
eine Kluft von dreißig Jahren dahin, wo Wolgast als Junge gewesen war.
    Er hielt vor der Veranda und stellte den Motor
ab. Wolgast saß am Steuer und verspürte den seltsamen Drang, ein Dankgebet zu
sprechen, um ihre Ankunft irgendwie zu würdigen. Aber es war viele Jahre her,
dass er gebetet hatte - zu viele. Er stieg aus und stand in der betäubenden
Kälte. Sein Atem wölkte vor seinem Gesicht wie bei einem dampfenden Pferd. Es
war Anfang Mai, und noch immer lag die ewige Erinnerung an den Winter in der
Luft. Er ging nach hinten zum Kofferraum und schloss ihn auf. Als er ihn das
erste Mal geöffnet hatte, auf dem Parkplatz eines Wal-Mart westlich von Rock
Springs, war er voll von leeren Farbeimern gewesen. Jetzt lagen Vorräte darin -
Kleider für sie beide, Proviant, Toilettenartikel, Kerzen, Batterien, ein
Campingkocher und ein paar Propanflaschen, ein paar einfache Werkzeuge, ein
Erste-Hilfe-Kasten und zwei Daunenschlafsäcke. Genug, um sich einzurichten,
aber er würde bald genug wieder ins Tal fahren müssen. Im Licht der
Kofferraumbeleuchtung fand er, was er suchte, und stieg auf die

Weitere Kostenlose Bücher