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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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hatte.
    Lilas ganze Familie war an der Ostküste, in der
Nähe von Boston. Nach dem Medizinstudium an der Boston University -
entsetzlich, sagte sie, die schlimmsten vier Jahre ihres Lebens, jedes Lebens
- war sie nach Colorado gegangen, um als Assistenzärztin in der Orthopädie zu
arbeiten. Sie hatte befürchtet, dass sie es dort schrecklich finden würde, in
dieser großen, gesichtslosen Stadt fern von zu Hause, doch das Gegenteil war
der Fall gewesen: Sie empfand nichts als Erleichterung. Denver in seiner
planlosen Ausdehnung, das chaotische Gewirr seiner Vororte und Autobahnen, die
Weite der Prärie und die gleichgültigen Berge, die Art, wie die Leute dort
miteinander redeten, so entspannt und unprätentiös, und die Tatsache, dass
alle von woanders hergekommen waren: Das alles hatte ihr gefallen.
    »Ich meine, es war alles so normal hier.« Sie strich Frischkäse auf einen Bagel - ihr
Frühstück, obwohl es fast acht Uhr abends war. »Ich glaube, ich hatte nie
gewusst, was normal war. Es war genau das, was ein verklemmtes Mädel vom
Wellesley College brauchte.«
    Wolgast fühlte sich klassenmäßig hoffnungslos unterlegen,
und das sagte er ihr. Sie lachte hell und verlegen und berührte kurz seine
Hand. »Das sollten Sie aber nicht«, sagte sie.
    Sie machte ständig Überstunden; sich irgendwie
auf die übliche Art mit ihr zu treffen, ins Restaurant oder ins Kino zu gehen,
war unmöglich. Wolgast war krankgeschrieben und saß zu Hause herum. Wenn er es
gar nicht mehr aushielt, fuhr er zum Krankenhaus, und sie aßen zusammen in der
Cafeteria. Sie erzählte ihm, wie sie in Boston als Tochter eines
College-Dozentenpaars aufgewachsen war, sie erzählte von der Schule, von ihren
Freunden und ihrem Studium und von dem Jahr, das sie in Frankreich verbracht
hatte, wo sie sich als Fotografin versucht hatte. Es sah aus, als habe sie
darauf gewartet, dass jemand in ihr Leben trat, für den das alles neu sein
würde. Er war rundum zufrieden damit, ihr einfach zuzuhören und dieser Jemand
für sie zu sein.
    Sie hielten einen ganzen Monat lang nicht einmal
Händchen. Und sie hatten ihr Essen gerade beendet, als Lila die Brille abnahm,
sich über den Tisch beugte und ihn lange und zärtlich küsste. Ihr Atem schmeckte
nach der Orange, die sie gegessen hatte.
    »So«, sagte sie. »Okay?« Sie sah sich dramatisch
in der Cafeteria um und senkte die Stimme. »Ich meine, eigentlich bin ich ja
deine Ärztin.«
    »Meinem Bein geht es schon besser«, sagte
Wolgast.
     
    Er war fünfunddreißig und Lila einunddreißig,
als sie heirateten. Im September. Die Hochzeit feierten sie auf Cape Cod in
einem kleinen Yachtclub an einer stillen Bucht, auf der unter einem klaren, herbstlich
blauen Himmel die Segelboote dümpelten. Fast alle, die kamen, gehörten zu
Lilas Familie, die so groß war wie ein ganzer Stamm - so viele Tanten, Onkel
und Cousinen, dass Wolgast die Übersicht verlor und sich all die Namen nicht
merken konnte. Die Hälfte der Frauen schien zu irgendeinem Zeitpunkt mit Lila
zusammengewohnt zu haben, und eifrig erzählten sie ihm alle irgendwelche
Geschichten von jugendlichen Eskapaden, die sich am Ende alle gleich anhörten.
Wolgast war noch nie so glücklich gewesen. Er trank zu viel Champagner und
stieg auf einen Stuhl, um einen langen, rührseligen und absolut aufrichtig
gemeinten Toast auszubringen, der damit endete, dass er eine Strophe aus
»Embraceable You« sang, so schräg, dass es in den Ohren wehtat. Alles lachte
und klatschte, bevor sie in einem kitschigen Reisregen entlassen wurden. Wenn
jemand wusste, dass Lila im vierten Monat schwanger war, erwähnte er es
Wolgast gegenüber nicht. Wolgast schrieb es neu-englischer Zurückhaltung zu,
aber dann begriff er, dass es niemandem etwas ausmachte: Alle freuten sich
ehrlich für sie beide.
    Von Lilas Geld - sein Einkommen sah neben ihrem
lächerlich aus - kauften sie ein Haus in Cherry Creek, in einem alten Viertel
mit Bäumen und Parks und guten Schulen, und dann warteten sie darauf, dass das
Baby zur Welt kam. Sie wussten, es würde ein Mädchen werden. Lilas Großmutter
hatte Eva geheißen; sie war eine feurige Persönlichkeit gewesen, die der
Familienlegende zufolge auf der Andrea Doria gereist
war und ein Verhältnis mit einem Neffen Al Capones gehabt hatte. Wolgast
gefiel der Name einfach, und als Lila ihn vorgeschlagen hatte, stand er sowieso
fest. Sie dachten sich, dass Lila bis zur Entbindung arbeiten würde; wenn Eva
da wäre, würde Wolgast ein Jahr zu

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