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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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immer wieder ihren Namen
aus, bis die Schwester sie wegbrachte.
     
    Amy wurde mit jedem Tag kräftiger, ihre
Lichtempfindlichkeit ließ jedoch nicht nach. In einem der Nebengebäude fand
Wolgast einen Stapel Sperrholzplatten, eine Leiter sowie einen Hammer. Er
musste die Platten mit der Hand messen und zuschneiden und dann damit auf die
Leiter steigen und sie festhalten, während er sie annagelte, um die Fenster im
ersten Stock zu verdunkeln. Aber nach dem langen Aufstieg durch den Luftschacht
war dies ein Kinderspiel.
    Amy verschlief fast den ganzen Tag und wachte in
der Abenddämmerung auf, um etwas zu essen. Sie fragte ihn, wo sie seien - in
Oregon, erklärte er, in einem Camp in den Bergen, wo er als kleiner Junge
gewesen sei -, doch sie wollte nie wissen, warum. Entweder wusste sie es schon,
oder es kümmerte sie nicht. Der Propantank der Lodge war beinahe voll. Er
kochte kleine, einfache Mahlzeiten auf dem Herd, Suppen und Doseneintöpfe, und
es gab Haferflocken, mit Trockenmilch angerührt. Das Wasser im Camp schmeckte
leicht schweflig, aber es war trinkbar und kam so eiskalt aus der Pumpe in der
Küche, dass seine Zahnfüllungen davon vibrierten. Er sah gleich, dass er nicht
genug Lebensmittel mitgebracht hatte: Bald würde er ins Tal fahren müssen. Im
Keller hatte er Kisten mit alten Büchern gefunden - einen ganzen Satz gebundene
Romanklassiker, stockfleckig von Alter und Feuchtigkeit -, und abends las er
ihr bei Kerzenlicht daraus vor: Die Schatzinsel, Oliver
Twist, 20000 Meilen unter dem Meer.
    Manchmal, wenn es bewölkt war, kam sie auch
tagsüber heraus und sah ihm bei der Arbeit zu. Er hackte Holz, er reparierte
ein Loch im Dach unter der Traufe, und er versuchte, die Funktionsweise eines
alten Benzingenerators zu ergründen, den er in einem der Schuppen gefunden
hatte. Dann saß Amy mit Sonnenbrille und Hut im Schatten auf einem Baumstumpf,
und ein großes Handtuch schützte ihren Nacken. Aber diese Besuche dauerten nie
lange; nach einer Stunde färbte sich ihre Haut wütend rosa, als habe man sie
mit kochendem Wasser übergossen, und dann schickte er sie wieder nach oben.
    Eines Abends, sie waren seit fast drei Wochen im
Camp, ging er mit ihr über den Pfad hinunter zum See, um zu baden. Abgesehen
von den wenigen Stunden, die sie draußen verbracht hatte, um ihm beim Arbeiten
zuzusehen, hatte sie sich nicht aus dem Haus gewagt, und überhaupt noch nie so
weit. Der Pfad endete an einem wackligen Steg, der vom grasbewachsenen Ufer
aus zehn Meter weit in den See hinausreichte. Wolgast zog sich bis auf die
Unterhose aus und forderte Amy auf, das Gleiche zu tun. Er hatte Handtücher,
Shampoo und ein Stück Seife mitgebracht.
    »Kannst du schwimmen?«
    Amy schüttelte den Kopf.
    »Gut, dann bringe ich es dir bei.«
    Er nahm ihre Hand und führte sie ins Wasser. Es
war eiskalt. Sie wateten hinein, bis es ihr an die Brust reichte. Wolgast hob
sie auf, legte sie waagerecht ins Wasser und erklärte ihr, wie sie Arme und
Beine bewegen sollte.
    »Lass los«, sagte sie.
    »Bist du sicher?«
    Sie atmete schnell. »Ja.«
    Er ließ sie los, und sie ging unter wie ein
Stein. Im klaren Wasser sah Wolgast, dass sie aufgehört hatte, sich zu bewegen.
Ihre Augen waren weit offen, und sie sah sich um wie ein Tier, das seine neue
Umgebung in Augenschein nimmt. Dann streckte sie mit erstaunlicher Anmut die
Arme aus und zog sie wieder zu sich heran; sie drehte die Schultern und bewegte
sich mit gewandten, froschartigen Bewegungen durch das Wasser. Ein perfekter
Grätschbeinschlag, und im nächsten Augenblick glitt sie über dem sandigen Grund
dahin und verschwand. Wolgast wollte ihr nachtauchen, als sie drei Meter
weiter wieder hochkam. Das Wasser war so tief, dass sie nicht mehr stehen
konnte, aber sie strahlte vor Begeisterung.
    »Ist einfach«, sagte sie und strampelte mit den
Beinen. »Wie Fliegen.«
    Wolgast war völlig verdattert. Er konnte nur
lachen. »Sei vorsichtig«, rief er, aber bevor er ausgesprochen hatte, holte sie
tief Luft und tauchte wieder weg.
    Er wusch ihr die Haare und erklärte ihr den
Rest, so gut er konnte. Als sie fertig waren, war aus dem Violett des Himmels
ein tiefes Schwarz geworden. Hunderte von Sternen, deren Funkeln sich in der
stillen Oberfläche des Sees verdoppelte. Kein Laut außer ihren eigenen Stimmen
und dem Grundrauschen des Wassers am Ufer. Mit der Taschenlampe beleuchtete er
den Pfad zurück zum Camp. Sie aßen in der Küche zu Abend, Suppe und Cracker,
und danach gingen sie nach

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