Cronin, Justin
was eigentlich ohne
sie aus Michael werden würde. Auch für ihn würde der Tag kommen. Die Lehrerin
hatte ihnen verboten, jemals darüber zu sprechen, aber natürlich taten die
Kleinen es doch, wenn sie nicht da war. Im Waschraum, im Speisesaal oder abends
im Großen Schlafsaal, wo das Getuschel an den Reihen der Pritschen hin und her
wanderte, redeten sie immer von der Entlassung und davon, wer als Nächster an
der Reihe wäre. Wie mochte die Welt da draußen aussehen? Wohnten die Leute in
Schlössern wie die in den Büchern? Welche Tiere würden sie finden, und würden
sie sprechen können? (Die Mäuse in dem Käfig, den die Lehrerin im Klassenzimmer
stehen hatte, waren ausnahmslos entmutigend stumm.) Was für wundervolles Essen
würden sie bekommen, was für fabelhaftes Spielzeug? Noch nie war Sara so
gespannt gewesen wie beim Warten auf den glorreichen Tag, an dem sie in die
Welt hinaustreten würde.
Am Morgen ihres Geburtstags erwachte sie mit
einem überschwänglichen Gefühl, als schwebe sie auf einer Wolke des Glücks.
Aber irgendwie würde sie dieses Glück noch bis zur Nachmittagsruhe für sich
behalten müssen. Erst wenn die Kleinen schliefen, würde die Lehrerin sie hinausbringen.
Niemand sagte etwas, doch beim Frühstück und im Morgenkreis merkte sie, dass
alle sich für sie freuten - alle außer Michael, der sich gar nicht bemühte,
seinen Neid zu verbergen, und sich mürrisch weigerte, mit ihr zu sprechen. Tja,
aber so war Michael nun mal. Wenn er sich nicht mit ihr freuen konnte, würde
sie sich ihren besonderen Tag dadurch trotzdem nicht verderben lassen. Erst
nach dem Lunch, als die Lehrerin alle aufforderte, sich von Sara zu
verabschieden, fragte sie sich allmählich, ob er vielleicht mehr wusste als
sie. Was ist, Michael?, fragte die Lehrerin. Willst du deiner Schwester nicht
auf Wiedersehen sagen, kannst du dich nicht für sie freuen? Und Michael sah sie
an und sagte: Es ist nicht so, wie du denkst, Sara. Dann umarmte er sie schnell
und rannte hinaus, bevor sie ein Wort hervorbringen konnte.
Na, das war aber merkwürdig, hatte sie damals
gedacht, und sie dachte es noch heute, nach all den Jahren. Woher hatte
Michael es gewusst? Viel später, als sie beide wieder allein zusammen waren,
dachte sie an diese Szene und fragte ihn danach. Woher wusstest du es? Aber
Michael konnte nur den Kopf schütteln. Ich wusste es einfach, sagte er. Nicht
die Details, aber ich wusste, was es in Wirklichkeit war. Wie sie mit uns
gesprochen hatten, Mom und Dad, wenn sie uns abends zudeckten. Ich habe es in
ihren Augen gesehen.
Aber damals, am Tag ihrer Entlassung, als
Michael weglief und die Lehrerin ihre Hand nahm, hatte sie sich keine großen
Gedanken gemacht. Michael war eben Michael. Dann die letzten Abschiede, die Umarmungen,
das Gefühl, dass der Augenblick bevorstand: Peter war da, und Maus Patal und
Ben Chou und Galen Strauss und Wendy Ramirez und alle andern, und sie berührten
sie und sagten ihren Namen. Vergiss uns nicht, sagten alle. Sie hatte die
Tasche mit ihren Sachen, mit Kleidern, Pantoffeln und der kleinen Stoffpuppe,
die sie hatte, seit sie klein war - ein Spielzeug durfte man mitnehmen -, und
die Lehrerin nahm sie bei der Hand und führte sie aus dem Großen Saal in den
kleinen Innenhof mit der Schaukel, der Wippe und dem Kletterturm aus alten Autoreifen,
in dem die Kinder spielten, wenn die Sonne hoch am Himmel stand. Von dort ging
es durch eine Tür in einen Raum, den sie noch nie gesehen hatte. Er sah aus wie
ein Klassenzimmer, aber er war leer. In den Regalen war nichts, und an den
Wänden hingen keine Bilder.
Die Lehrerin schloss die Tür hinter ihnen - eine
seltsame und vorzeitige Pause. Sara hatte mehr erwartet. Wo kam sie hin?,
fragte sie. War es ein weiter Weg? Würde jemand sie abholen? Wie lange musste
sie hier in diesem Zimmer warten? Aber die Lehrerin schien ihre Fragen gar
nicht zu hören. Sie ging vor ihr in die Hocke, und ihr großes, sanftes Gesicht
war dicht vor Saras. Kleine Sara, sagte sie, was glaubst du, was da draußen
ist, um dieses Gebäude herum, außerhalb der Räume, in denen du gewohnt hast?
Und was mit den Männern ist, die du manchmal siehst, die abends kommen und
gehen und über dich wachen? Die Lehrerin lächelte, doch etwas an ihrem Lächeln
war anders, fand Sara, etwas, das ihr Angst machte. Die Frau sah sie
erwartungsvoll an. Sara dachte an die Augen ihrer Mutter an dem Abend, als sie
gefragt hatte, wo sie schlief. Ein Schloss?, fragte sie dann, denn
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