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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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wissen, was
sie ihm anbot, indem sie einfach nur in diesem Raum war.
    Einmal hatte Peter sie geküsst. Vielleicht hatte
auch Sara ihn geküsst. Die Frage, wer da wirklich wen geküsst hatte, erschien
ihr angesichts der Sache selbst unwichtig. Sie hatten sich geküsst. In der
Ersten Nacht. Spät war es gewesen und kalt. Sie alle hatten Schnaps getrunken
und Arlo zugehört, der unter den Scheinwerfern Gitarre spielte, und als die
Gruppe sich in der letzten Stunde vor Tagesanbruch zerstreute, war Sara
unversehens mit Peter allein gewesen. Sie war ein bisschen beschwipst vom
Schnaps, aber wohl nicht betrunken, und sie glaubte auch nicht, dass Peter es
war. Eine seltsame Stille hatte sie erfasst, als sie zusammen den Weg
hinuntergingen, weniger die Abwesenheit von Geräuschen oder Worten, als
vielmehr etwas Greifbares, leicht Elektrisierendes, wie die Abstände zwischen
den Noten von Arlos Gitarre. Die Erwartung umgab sie wie eine Luftblase, als
sie unter den Scheinwerfern dahingingen, ohne sich zu berühren und trotzdem
verbunden, und als sie bei ihrem Haus angekommen waren - ohne sich
einzugestehen, dass es ihr Ziel gewesen war -, war diese Stille nicht nur eine
Luftblase, sondern zugleich auch ein Fluss, dessen Strömung sie fortzog, und
was als Nächstes geschehen sollte, erschien unaufhaltsam. Sie war glücklich,
so glücklich. Sie standen an der Wand ihres Hauses in einem Streifen Schatten,
und erst drängte sein Mund sich an sie, und dann alles andere. Es hatte keine
Ähnlichkeit mit den Kussspielen, die sie alle in der Zuflucht gespielt hatten.
Und auch nicht mit dem ersten, unbeholfenen Gefummel als Teenager. Das hier
war tiefer, verheißungsvoller. Sara fühlte sich eingehüllt von einer Wärme, die
sie kaum kannte: von der Wärme der menschlichen Nähe. Sie war nicht mehr
allein. Und in diesem Augenblick hätte sie ihm alles gegeben. Was immer er
wollte.
    Aber dann war es vorbei gewesen. Plötzlich war
er zurückgewichen. »Tut mir leid«, brachte er hervor. Anscheinend nahm er an,
sie wünschte, er hätte es nicht getan, obwohl der Kuss ihm hätte sagen müssen,
dass es nicht so war. Aber inzwischen hatte sich in der Luft etwas verschoben,
die Luftblase war geplatzt, und beide waren zu verlegen, zu verwirrt, um noch
irgendetwas zu sagen. Er verließ sie an ihrer Haustür, und das war's. Seit
dieser Nacht waren sie nie wieder allein zusammen gewesen, und sie hatten kaum
ein Wort miteinander gesprochen.
    Denn sie wusste es. Sie wusste es, als er sie
küsste, und danach immer mehr, als die Tage vergingen. Peter gehörte nicht ihr,
konnte niemals ihr gehören, weil es eine andere gab. Sie hatte es gespürt wie
ein Gespenst zwischen ihnen, und in seinem Kuss. Jetzt ergab alles einen Sinn,
und es war hoffnungslos. Während sie im Krankenrevier auf ihn wartete, hatte er
die ganze Zeit auf der Mauer verbracht, mit Alicia Donadio.
    Als sie jetzt mit ihrem Topf unterwegs zum
Lichthaus war, fiel ihr Gabe Curtis ein, und sie beschloss, im Krankenrevier
vorbeizuschauen. Der arme Gabe - gerade vierzig, und schon der Krebs. Niemand
konnte viel für ihn tun. Sara vermutete, dass es im Magen angefangen hatte.
Vielleicht auch in der Leber. Im Grunde war es gleichgültig. Das Krankenrevier
war ein kleines Holzhaus in dem Teil der Kolonie, den sie Altstadt nannten -
ein halbes Dutzend Häuser, in denen früher verschiedene Läden und Geschäfte
gewesen waren. Das Haus, in dem jetzt das Krankenrevier war, hatte früher einen
Lebensmittelladen beherbergt. Wenn die Nachmittagssonne im richtigen Winkel
auf das Schaufenster schien, konnte man den Namen noch erkennen. »Mountaintop
Provision Co, Fine Foods and Spirits, Est. 1996«, war da ins Milchglas geätzt.
    Eine einzelne Laterne beleuchtete den Vorraum,
wo Sandy Chou sich über den Schwesterntisch beugte und trockenen Wacholder im
Mörser zermahlte. Alle nannten sie nur »die Andere Sandy«, denn es hatte einmal
zwei Sandy Chous gegeben; die erste war Ben Chous Frau, die im Kindbett
gestorben war. Die Luft war heiß und feucht; aus einem Wasserkessel auf dem
Herd hinter dem Tisch quoll eine Dampfwolke. Sara schob ihren Topf zur Seite,
nahm den Kessel vom Feuer und stellte ihn auf einen Untersetzer. Sie kam zum
Tisch zurück und deutete auf das Pulver, das Sandy gerade in ein Sieb
schüttete.
    »Ist das für Gabe?«
    Sandy nickte. Wacholder galt als Analgetikum,
aber sie benutzten es zur Behandlung verschiedener Erkrankungen - bei
Erkältungen, Durchfall und Arthritis. Sara war

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