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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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zustande. »Ich weiß, Gabe
hat dich immer gerngehabt. Du warst seine Lieblingskrankenschwester.«
     
    Es war Halbnacht, als Sara beim Lichthaus ankam.
Leise öffnete sie die Tür und trat ein. Elton saß allein vor dem Steuerpult und
schlief tief und fest. Er hatte den Kopfhörer auf.
    Er zuckte zusammen, als die Tür hinter ihr
zufiel. »Michael?«
    »Ich bin's, Sara.«
    Er nahm den Kopfhörer ab, drehte sich um und
schnupperte. »Was rieche ich da?«
    »Hasenragout. Wahrscheinlich aber inzwischen
eiskalt.«
    »Na, da bin ich platt.« Er richtete sich auf.
»Bring's her.«
    Sie stellte den Topf vor ihm auf das Pult. Er
griff nach einem schmutzigen Löffel, der vor der Kontrolltafel lag. »Du kannst
die Lampe anmachen, wenn du willst.«
    »Ich hab's gern dunkel. Wenn es dir nichts
ausmacht.«
    »Für mich ist alles eins.«
    Eine Zeitlang sah sie zu, wie er im Schein der
Kontrolltafel aß. Die Bewegungen seiner Hände hatten fast etwas
Hypnotisierendes. Mit geschmeidiger Präzision führten sie den Löffel in den
Topf und dann zu seinem wartenden Mund, und keine Geste war verschwendet.
    »Du beobachtest mich«, sagte er.
    Sie spürte, dass sie rot wurde. »Entschuldige.«
    Er kratzte den letzten Rest aus dem Topf und
wischte sich dann mit einem Lappen den Mund ab. »Kein Grund, dich zu
entschuldigen. Du bist so ungefähr das Beste, was je hier hereinkommt. Ein
hübsches Mädchen wie du kann mich angucken, so lange es will.«
    Sie lachte - ob aus Verlegenheit oder
Ungläubigkeit, wusste sie nicht. »Du hast mich noch nie gesehen, Elton. Woher
willst du wissen, wie ich aussehe?«
    Elton zuckte die Achseln, und seine nutzlosen
Augen rollten hinter den hängenden Lidern nach oben, als sei da in der
Dunkelheit seines Kopfes ihr Bild zu sehen. »Deine Stimme. Wie du mit mir
sprichst, und wie du mit Michael sprichst. Und wie du für ihn sorgst. Hübsch
ist, wer nett ist, sage ich immer.«
    Sie hörte sich seufzen. »Ich fühle mich aber
nicht immer so.«
    »Vertrau auf den alten Elton.« Er lachte leise.
»Irgendjemand wird dich lieben.«
    Etwas an Elton bewirkte, dass sie sich in seiner
Gegenwart immer gut fühlte. Er flirtete schamlos, das war das Erste. Aber es
war nicht der eigentliche Grund. Er schien glücklicher zu sein als
irgendjemand sonst, den sie kannte. Es stimmte, was Michael über ihn sagte.
Seine Blindheit bedeutete nicht, dass ihm etwas fehlte. Er war einfach anders.
    »Ich komme eben aus dem Krankenrevier.«
    »Ja, so bist du.« Er nickte. »Dauernd kümmerst
du dich um die Leute. Wie geht's Gabe?«
    »Nicht gut. Er sieht wirklich schrecklich aus,
Elton. Und Mar ist sehr mitgenommen. Ich wünschte, ich könnte irgendetwas für
ihn tun.«
    »Manchmal kannst du es, und manchmal nicht.
Jetzt ist Gabe an der Reihe. Du hast getan, was du konntest.«
    »Aber es ist nicht genug.«
    »Das ist es nie.« Elton taste mit den Händen
über das Pult nach dem Kopfhörer und reichte ihn ihr. »Aber nachdem du mir ein
Geschenk gebracht hast, habe ich für dich auch eins. Eine Kleinigkeit, um dich
aufzumuntern.«
    »Elton, ich hätte doch keine Ahnung, was ich da
höre. Für mich ist das alles nur Rauschen.«
    Er lächelte verschmitzt. »Tu, was ich sage. Und
mach die Augen zu.«
    Die Hörmuscheln lagen warm an ihren Ohren. Sie
spürte, wie Eltons Hände über das Steuerpult glitten. Dann hörte sie es: Musik.
Eine ganz neue Art von Musik. Zuerst erreichte sie ein ferner, hohler Klang wie
ein Windhauch, und dann erhoben sich dahinter hohe Töne, die in ihrem Kopf
tanzten wie Vogelgesang. Die Klänge schwollen an; sie schienen aus allen
Richtungen zu kommen, und sie wusste, was es war: ein Sturm. Sie sah es vor
ihrem geistigen Auge, einen machtvollen Sturm aus Musik, der über sie
hereinbrach. Noch nie im Leben hatte sie etwas so Schönes gehört. Als die
letzten Noten verhallt waren, zog sie den Kopfhörer herunter.
    »Das verstehe ich nicht. Hast du das irgendwo
aufgefangen?«
    Elton kicherte. »Das wäre eine tolle Sache,
was?«
    Wieder hantierte er am Steuerpult herum. Eine
kleine Schublade fuhr heraus, und darin lag eine Silberscheibe: eine CD. Sie
hatte sich nie für die Dinger interessiert. Michael hatte ihr gesagt, darauf
sei nur Lärm. Sie fasste die Scheibe bei den Rändern und las: Strawinsky,
Le Sacre du Printemps, Chicago Symphony Orchestra unter Leitung von Erich
Leinsdorf.
    »Ich dachte, du sollst einfach mal hören, wie du
aussiehst«, sagte Elton.
     
    22
     
    »Ich verstehe nur eins nicht«, sagte Theo.

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