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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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nicht sicher, dass es wirklich
etwas bewirkte, aber Gabe behauptete, es lindere den Schmerz, und es sei
überhaupt das Einzige, was er bei sich behalten könne.
    »Wie geht's ihm?«
    Sandy goss Wasser durch das Sieb in einen
Keramikbecher mit abgesprungenem Rand. Auf dem Becher standen die Worte NEW
DADDY, und die Buchstaben waren aus Sicherheitsnadeln geformt.
    »Vorhin hat er geschlafen. Die Gelbsucht ist
schlimmer geworden. Sein Junge ist eben gegangen, und jetzt ist Mar bei ihm.«
    »Ich bringe ihm den Tee.«
    Sara nahm den Becher und trat durch den Vorhang.
Dahinter standen sechs Betten, aber nur eins war belegt. Mar saß auf einem
Stuhl neben dem Bett, in dem ihr Mann unter einer Wolldecke lag. Sie war
beinahe vogelartig dünn, und sie hatte die Last der Pflege in den Monaten, seit
Gabe krank war, zum größten Teil getragen. Man sah es an den Halbmonden der
Schlaflosigkeit unter ihren Augen. Sie hatten ein Kind, Jacob. Er war ungefähr
sechzehn und arbeitete wie seine Mutter in der Molkerei: ein großer,
schwerfälliger Junge mit leerem, stets freundlichem Gesicht, der weder lesen
noch schreiben konnte und es auch nie lernen würde. Er konnte einfache Arbeiten
übernehmen, solange jemand da war, der ihn anleitete. Ein hartes und
unglückliches Leben - und jetzt das. Mar war über vierzig und hatte Jacob zu
versorgen. Es war unwahrscheinlich, dass sie je wieder heiraten würde.
    Sie hob den Kopf, als Sara näher kam, und hielt
einen Finger an die Lippen. Sara nickte und schob einen Stuhl heran. Sandy
hatte recht; die Gelbsucht war schlimmer geworden. Vor seiner Erkrankung war
Gabe ein kräftiger Mann gewesen - so groß wie seine Frau zierlich -, mit breiten
Schultern und klobigen Unterarmen, die zum Arbeiten geschaffen waren. Ein
stattlicher Bauch hatte wie ein Sack Mehl über seinen Gürtel gehangen: ein
Mann, den Sara nie im Krankenrevier gesehen hatte, bis er eines Tages
hereingekommen war und über Rückenschmerzen und Verdauungsbeschwerden geklagt
hatte. Er hatte sich dafür entschuldigt, als sei es ein Zeichen von Schwäche
und ein charakterliches Versagen, nicht etwa der Beginn einer schweren
Krankheit. Als Sara seine Leber betastet hatte, hatten ihre Fingerspitzen
sofort gefühlt, dass da etwas wuchs, und sie hatte begriffen, dass er
Höllenqualen leiden musste.
    Jetzt, ein halbes Jahr später, war der Mann, der
Gabe Curtis gewesen war, nicht mehr da. Geblieben war eine Hülse, die sich nur
noch mit reiner Willenskraft ans Leben klammerte. Sein Gesicht, früher so rundlich
und rotwangig wie ein reifer Apfel, war zu einem faltigen, kantigen Gebilde
geschrumpft und sah aus wie eine hastig hingeworfene Zeichnung. Mar schnitt
ihm Bart und Fingernägel, und seine rissigen Lippen glänzten von der Salbe aus
dem breitrandigen Tiegel auf dem Rollwagen neben dem Bett - eine kleine
Linderung, nutzlos wie der Tee.
    Sie blieb eine Weile bei Mar sitzen, aber sie
schwiegen beide. Sara wusste, dass ein Leben zu lange dauern oder zu schnell
enden konnte.
    Vielleicht war es die Angst davor, Mar allein zu
lassen, was ihn am Leben hielt.
    Schließlich stand sie auf und stellte den Becher
auf den Wagen. »Wenn er aufwacht, sieh zu, dass er es trinkt«, sagte sie.
    Tränen der Erschöpfung blinkten in Mars
Augenwinkeln. »Ich habe ihm gesagt, es ist gut, er kann gehen.«
    Sara brauchte einen Augenblick, um eine Antwort
zusammenzubringen. »Darüber bin ich froh. Manchmal ist es nötig, dass jemand
das hört.«
    »Es ist wegen Jacob, weißt du. Er will Jacob
nicht verlassen. Ich habe ihm gesagt, wir kommen zurecht. Du kannst gehen. Das
habe ich zu ihm gesagt.«
    »Ich weiß, dass ihr es schafft, Mar.« Ihre Worte
klangen kümmerlich. »Und er weiß es auch.«
    »Er ist so verdammt stur. Hörst du, Gabe? Warum
musst du dauernd so verdammt stur sein?« Sie schlug die Hände vors Gesicht und
fing an zu weinen.
    Sara wartete respektvoll eine Zeitlang, aber sie
wusste, dass sie nichts tun konnte, um den Schmerz der Frau zu lindern. Die
Trauer, das wusste sie, war ein Ort, den jeder allein aufsuchen musste. Sie
war wie ein Zimmer ohne Türen, und was in diesem Zimmer geschah, all der Zorn
und der Schmerz, den man empfand, musste dort bleiben und ging niemand anderen
etwas an.
    »Entschuldige, Sara«, sagte Mar schließlich
kopfschüttelnd. »Das hättest du nicht hören sollen.«
    »Es ist schon gut. Ich habe nichts dagegen.«
    »Wenn er aufwacht, sage ich ihm, dass du hier
warst.« Unter Tränen brachte sie ein trauriges Lächeln

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