Cronin, Justin
und dann die unteren
Klötze herausgezogen, einen nach dem andern, ohne dass das ganze Ding
einstürzte. Und wenn es dann doch einstürzte, geschah es schnell, und alles
war kaputt. Ob es so auch bei Michael sein würde? Oder ob noch irgendetwas
stehen bleiben würde? Dann würde er sie brauchen, wie er sie an jenem Morgen
gebraucht hatte, als sie ihre Eltern gefunden hatten - an dem Tag, als Sara ihn
im Stich gelassen hatte.
Sie hatte es ernst gemeint, als sie Peter sagte,
sie habe keine Angst vor dem Mädchen. Zuerst hatte sie welche gehabt. Aber
allmählich hatte sie etwas Neues empfunden. In der wachsamen, rätselhaften
Gegenwart des Mädchens - still und regungslos, und doch wieder nicht - hatte
sie Beruhigung, ja sogar Hoffnung verspürt. Das Gefühl, dass sie nicht allein
war, aber noch mehr als das: dass die Welt nicht allein war. Als wachten sie
alle nach einer langen Nacht mit schrecklichen Träumen auf, um wieder ins Leben
zurückzutreten.
Bald würde der Morgen dämmern. Die Ereignisse
der Nacht zuvor hatten sich offenbar nicht wiederholt. Sie hätte das Geschrei
gehört. Es war, als halte die Nacht noch einmal den Atem an und warte auf das,
was als Nächstes kommen würde. Denn was Sara weder Peter noch sonst jemandem
erzählt hatte, war das, was sich im Krankenrevier abgespielt hatte, kurz bevor
die Lichter ausgegangen waren. Das Mädchen hatte plötzlich kerzengerade auf dem
Bett gesessen. Sara war erschöpft gewesen und hatte sich gerade schlafen
gelegt, und ein Geräusch hatte sie aufgeschreckt, das von dem Mädchen gekommen
war. Ein leises Stöhnen, ein einzelner, ununterbrochener Ton, der aus der Kehle
kam. Was ist?, fragte Sara, und sie stand sofort auf und ging zu ihr. Was ist
passiert? Tut dir was weh? Aber das Mädchen antwortete nicht. Ihre Augen waren
weit aufgerissen, und trotzdem schien sie Sara nicht zu sehen. Sara spürte,
dass draußen etwas im Gange war; es war merkwürdig dunkel im Raum, sie hörte
Schreie von der Mauer, lauten Aufruhr, rufende Stimmen und schnelle Schritte
vor dem Haus. Aber obwohl das wichtig zu sein schien, konnte sie den Blick
nicht von dem Mädchen wenden. Sie spürte ganz deutlich, dass das, was da
draußen vor sich ging, sich auch hier abspielte, in diesem Raum, in den leeren
Augen des Mädchens, ihrem angespannten Gesicht und der klagenden Melodie, die
irgendwo aus der Tiefe ihres Inneren in die Kehle heraufstieg. Sara zählte die
Minuten nicht, die vergingen - es waren zwei Minuten und sechsundfünfzig
Sekunden gewesen, sagte Michael, aber ihr war es wie eine Ewigkeit vorgekommen
-, und dann, genauso schnell und überraschend, wie es angefangen hatte, war es
vorbei. Das Mädchen war verstummt, hatte sich hingelegt und die Knie an die Brust
gezogen, und das war es gewesen.
Jetzt saß Sara am Schreibtisch im vorderen
Zimmer und erinnerte sich an all das. Sie überlegte, ob sie es Peter hätte
erzählen sollen, als sie draußen auf der Veranda Stimmen hörte. Sie hob das
Gesicht zum Fenster. Ben saß immer noch am Geländer und wandte ihr den Rücken
zu; sie hatte ihm einen Stuhl hinausgestellt. Das Ende seiner Armbrust, die auf
seinem Schoß lag, ragte seitlich hervor. Mit wem er sprach, konnte Sara nicht
sehen; derjenige stand unten vor der Veranda. Was
wollt ihr hier?, hörte sie Ben sagen, und seine Stimme
nahm einen warnenden Ton an. Wisst ihr nicht, dass
wir Ausgangssperre haben?
Als Sara aufstand, um zu sehen, mit wem Ben
redete, sah sie, dass Ben sich ebenfalls erhob und seine Armbrust hochriss.
Peter und Michael liefen durch den Trailerpark.
Sie huschten von Schatten zu Schatten und legten den letzten Rest des Weges
zum Gefängnis im Schutze der Bäume zurück. Kein Wachtposten.
Die Tür war angelehnt. Peter schob sie behutsam
auf und trat ein. An der Wand gegenüber lag eine Gestalt, an Händen und Füßen
gefesselt. Alicia erschien links hinter ihm und ließ die Armbrust sinken, mit
der sie auf seinen Rücken gezielt hatte.
»Wo zum Teufel hast du gesteckt?«, sagte sie.
Caleb stand hinter ihr mit einem Messer in der
Hand.
»Ist eine lange Geschichte. Ich erzähl's dir
unterwegs.« Er deutete auf die Gestalt am Boden; jetzt erkannte er, dass es
Galen Strauss war. »Wie ich sehe, hast du ohne mich angefangen. Was hast du mit
ihm gemacht?«
»Nichts, woran er sich erinnern wird, wenn er
wieder aufwacht.«
»Ian weiß von den Gewehren«, sagte Michael.
Alicia nickte. »Dachte ich mir.«
Peter erklärte ihr, was sie planten: Zuerst
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