Cronin, Justin
MANAGEMENT AGENCY, KARTE DER ZENTRALEN
QUARANTÄNEZONE.
»Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Woher hast
du die?«
»Deine Mutter hat sie mir gegeben. Bevor sie
starb.« Auntie beobachtete ihn vom Bett aus, die Hände im Schoß. »Die Frau
kannte dich besser, als du dich selbst kennst. Gib sie ihm, wenn er so weit
ist, hat sie gesagt.«
Peter spürte, wie ihn die gewohnte Traurigkeit
überkam. »Tut mir leid, Auntie. Da hast du etwas missverstanden. Sie muss Theo
gemeint haben.«
Aber sie schüttelte den Kopf. »Nein, Peter.« Sie
lächelte zahnlos. Ihr wolkenartiges Haar, das von den Scheinwerfern von hinten
angestrahlt wurde, schien wie ein Kranz zu glühen. »Sie hat dich gemeint. Sie
hat gesagt, dir soll ich sie geben.«
Später dachte Peter, wie seltsam es doch war.
Wie er in der Stille von Aunties Schlafzimmer, umgeben von all diesen Dingen,
das Gefühl gehabt hatte, als öffne sich etwas; so, wie wenn man ein Buch
aufgeschlägt. Er dachte an die letzten Stunden seiner Mutter - an ihre Hände
und die stickige, heiße Luft in dem kleinen Zimmer, in dem sie lag; an ihr
plötzliches Ringen nach Atem und ihre letzten, beschwörenden Worte: Gib
acht auf deinen Bruder, Theo. Er ist nicht stark wie du. Es
war so klar gewesen, was sie gemeint hatte. Aber als er diesen Augenblick jetzt
in Gedanken durchforschte, begann die Erinnerung sich zu verschieben. Die Worte
seiner Mutter nahmen eine neue Gestalt, eine neue Betonung an, und damit
bekamen sie auch eine ganz andere Bedeutung.
Gib acht auf deinen Bruder Theo.
Es klopfte plötzlich an der Tür, und er
erschrak.
»Erwartest du jemanden, Auntie?«
Die alte Frau legte die Stirn in scharfe Falten.
»Um diese Zeit?«
Peter legte die Landkarten schnell in den Karton
und schob ihn wieder unters Bett. Erst als er die Haustür öffnete und Michael
hinter dem Fliegengitter stehen sah, fragte er sich, warum er das getan hatte.
Michael kam herein und warf einen Blick an ihm vorbei zu Auntie, die mit verschränkten
Armen hinter Peter stand. »Hey, Auntie«, sagte er atemlos.
»Selber hey, du ungezogener Bengel. Wenn du
schon mitten in der Nacht an meine Tür klopfst, dann erwarte ich ein >Guten
Abend<.«
»Verzeihung.« Er errötete verlegen. »Guten
Abend, Auntie. Wie geht's dir?«
Sie nickte. »Ganz gut, schätze ich.«
Michael sah Peter an und senkte vertraulich die
Stimme. »Kann ich dich sprechen? Draußen?«
Peter ging mit Michael hinaus auf die Veranda
und sah Dale Levine, der aus dem Schatten hervortrat.
»Erzähl ihm, was du mir erzählt hast«, sagte Michael.
»Dale? Was soll das?«
»Hör zu«, sagte der Mann und sah sich nervös um.
»Wahrscheinlich sollte ich den Mund halten. Aber wenn du vorhast, Alicia und
Caleb hier rauszubringen, dann würde ich es an deiner Stelle gleich morgen Früh
tun, sobald es dämmert. Ich kann euch am Tor helfen.«
»Wieso? Was ist passiert?«
Michael übernahm die Antwort. »Die Gewehre,
Peter. Sie holen die Gewehre.«
41
Im Krankenrevier wachte Sara Fisher, Erste
Krankenschwester, bei dem Mädchen.
Amy, dachte Sara. Sie heißt Amy. Dieses Mädchen,
dieses hundert Jahre alte Mädchen, heißt Amy. Bist du das?, fragte sie. Heißt
du so? Bist du Amy?
Ja, sagten die Augen.
Vielleicht lächelte sie sogar. Wie lange hatte sie ihren Namen nicht mehr
gehört? Das bin ich. Ich bin Amy.
Sara wünschte, sie hätte ein paar Kleider für
das Mädchen, nicht nur dieses Krankenhaushemd. Es kam ihr nicht richtig vor,
dass ein Mädchen mit einem Namen nichts anzuziehen und keine Schuhe hatte. Daran
hätte sie denken sollen, bevor sie zum Krankenrevier zurückgegangen war. Das
Mädchen war kleiner als sie, feingliedriger und schmaler in den Hüften, aber
Sara hatte ein Paar Hosen, die sie gern beim Reiten trug, eng anliegend in der
Taille und am Hintern. Mit einem Gürtel würden sie dem Mädchen gut passen. Ein
Bad hatte sie auch nötig, und einen Haarschnitt.
Sara stellte nichts von dem in Frage, was
Michael ihr erzählt hatte. Michael war Michael, das sagten alle, und das sollte
heißen, er sei einfach oberschlau - schlauer, als gut für ihn war. Aber eins
gab es wirklich nicht, niemals: dass er sich irrte. Irgendwann würde es
passieren, vermutete Sara. Kein Mensch konnte immer nur recht haben, und sie
fragte sich, was an diesem Tag aus ihrem Bruder werden würde. Dann würde er
plötzlich zusammenbrechen. Sara musste an ein Spiel denken, das sie als Kinder
gespielt hatten: Sie hatten aus Bauklötzen Türme gebaut
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