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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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nach
Sonnänaufgang.«
    Der erste Mann wedelte arrogant mit seinem Stock
und wollte nichts davon wissen. »Tja, ich bedaure, aber um Mitternacht
erwartetet mich ein Wagen am Borgo-Pass.«
    »Am Borgo-Pass? Wessen Wagen?«
    »Nun, der des Grafen Dracula.«
    Der schnurrbärtige Mann riss entsetzt die Augen
auf. »Graf ... Dracula?«
    »Tu es nicht, Renfield!«, schrie einer der
Soldaten, und alle lachten.
    Es war eine Geschichte, erkannte Peter. Eine
Geschichte wie in den alten Büchern in der Zuflucht, aus denen die Lehrerin
ihnen im Kreis vorgelesen hatte, vor vielen Jahren. Die Leute da vorn auf der
Wand sahen aus, als spielten sie etwas: Ihre übertriebene Gestik und Mimik
erinnerte ihn daran, wie Teacher beim Vorlesen die Stimmen der verschiedenen
Personen nachgeahmt hatte. Der stämmige Mann mit dem Schnurrbart wusste etwas,
das der Mann mit dem Hut nicht wusste. Hier drohte Gefahr. Aber trotz der
Warnung setzte der Reisende unter den spöttischen Zurufen der Soldaten seine
Fahrt fort. Die Kutsche rollte eine dunkle Bergstraße hinauf und auf ein
wuchtiges Gebäude mit Türmen und Mauern zu, das abweisend im Mondschein
aufragte. Was dort lauerte, war klar; der Schnurrbärtige hatte es mehr oder
weniger erklärt. Vampire. Ein altes Wort, aber Peter kannte es. Er wartete darauf,
dass die Virais erschienen, dass sie über die Kutsche herfielen und den
Reisenden in Fetzen rissen, aber das geschah nicht. Die Kutsche fuhr durch das
Tor, der Mann - Renfield - stieg aus und sah, dass er allein war; der Kutscher
war verschwunden. Eine Tür öffnete sich knarrend von allein und verlockte ihn
zum Eintreten. Er betrat eine große, ruinenhafte Halle. Ahnungslos und mit fast
lächerlicher Einfalt ging Renfield rückwärts auf eine breite Treppe zu, auf
der ein Mann in einem dunklen Umhang und mit einer Kerze in der Hand
herunterkam. Als der Mann unten angekommen war, drehte Renfield sich um, und
das Weiße seiner Augen weitete sich so entsetzt, dass man glauben konnte, er
sei über einen ganzen Schwarm Smokes gestolpert, nicht über einen einzelnen
Mann in einem Cape. »Ich bin ... Drrrrra-culaaaah.«
    Wieder erzitterte das Zeltdach unter einer
Explosion von Jauchzern, Rufen und Pfiffen. Ein Soldat in einer der vorderen
Reihen sprang auf. »Hey, Graf, friss das hier!«
    Stahl blitzte im Lichtstrahl des Projektors. Die
Spitze des Messers bohrte sich mit fleischig dumpfem Schlag in das Sperrholz
und mitten in die Brust des Mannes im Cape, der überraschenderweise keine Notiz
davon nahm.
    »Fuck, Muncey, was soll das!«,
schrie der Mann am Projektor.
    »Zieh dein Messer da raus«, rief jemand anders,
»es ist im Weg!«
    Aber die Stimmen klangen nicht wütend. Alle
fanden es wahnsinnig komisch. Unter lauten Buhrufen und Pfiffen sprang Muncey
zur Projektionswand, um sein Messer herauszuziehen. Die Bilder flimmerten über
seine Gestalt. Er drehte sich grinsend um und verbeugte sich.
    Trotz all dem - trotz der chaotischen Störungen,
des Gelächters und der höhnischen Sprechchöre der Soldaten, die jede Textzeile
schon auswendig kannten - nahm die Geschichte Peter bald völlig gefangen. Er
hatte das Gefühl, dass Teile des Films fehlten, denn die Erzählung machte
mitunter verwirrende Sprünge: Das Schloss verschwand, und man sah ein Schiff
auf hoher See und dann einen Ort namens London. Eine Großstadt, erkannte er.
Eine Stadt aus der Zeit Davor. Der Graf - eine Art Viral, obwohl er nicht so aussah
- tötete Frauen. Zuerst ein Mädchen, das auf der Straße Blumen verteilte, dann
eine junge Frau, die schlafend im Bett lag, mit vielen zerzausten Locken und
einem so gefassten Gesicht, dass sie aussah wie eine Puppe. Die Bewegungen des
Grafen waren von komischer Langsamkeit, und die seiner Opfer ebenfalls. Alle
in dem Film schienen in einem Traum gefangen zu sein, in dem sie sich nicht
schnell genug oder auch gar nicht bewegen konnten. Dracula selbst hatte ein
blasses, beinahe feminines Gesicht. Seine Lippen waren so geschminkt, dass sie
wie Fledermausflügel geschwungen waren, und wenn er jemanden beißen wollte, sah
man eine ganze Weile nur seine von unten beleuchteten Augen, die funkelten wie
zwei Kerzenflammen.
    Natürlich wusste Peter, dass das alles nicht
echt war und nicht ernst genommen werden durfte. Aber als die Geschichte
weiterging, machte er sich trotzdem Sorgen um dieses Mädchen Mina, die Tochter
des Doktors - Doktor Sewells, dem das Sanatorium, oder was immer das sein
mochte, gehörte. Minas Mann, der unfähige Harker,

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