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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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ihm zu helfen, und
sie hatte gewusst, dass sie schon tot waren. In diesem Augenblick hatte sie
nicht Entsetzen oder Schmerz empfunden, sondern etwas wie Staunen: eine stumme
Verwunderung angesichts der nüchternen Faktizität dieser Szene und ihrer
erbarmungslosen Mechanik. Sie hatten Stricke und zwei hölzerne Hocker benutzt.
Sie hatten sich die Stricke um den Hals geschlungen, die Knoten festgezogen und
die Hocker zur Seite gestoßen, sodass ihr eigenes Gewicht sie stranguliert
hatte. Hatten sie es zusammen getan?, fragte sie sich. Hatten sie bis drei
gezählt? Oder waren sie nacheinander gestorben? Michael flehte: Bitte,
Sara, hilf mir. Wir müssen sie retten. Doch sie wusste, dass es
zu spät war. Am Abend zuvor hatte ihre Mutter Fladenbrote gebacken; sie waren
noch auf dem Küchentisch, als sie beide irgendwann später ins Haus
zurückkehrten, nachdem pflichtschuldig getan war, was getan werden musste. Ihr
Onkel Walt hatte sich um die Leichen gekümmert. Sara hatte in ihrer Erinnerung
nach irgendeinem Hinweis darauf gesucht, dass ihre Mutter die Fladenbrote
anders als sonst gebacken hatte; sie musste ja gewusst haben, dass sie ein
Frühstück vorbereitete, das sie nicht essen würde, für Kinder, die sie nicht
wiedersehen würde. Aber Sara fiel nichts ein.
    Als ob sie einem letzten, wortlosen Befehl
gehorchten, hatten sie und Michael alles bis auf den letzten Bissen
aufgegessen. Und als sie fertig waren, hatte Sara gewusst - wie auch Michael es
sicher wusste -, dass sie von diesem Tag an für ihren Bruder sorgen würde. Ein
Teil dieser Fürsorge bestand in der unausgesprochenen Übereinkunft, dass sie
nie wieder von ihren Eltern sprechen würden.
    Der Konvoi war langsamer geworden. Sara hörte
von vorn den lauten Befehl zum Anhalten und dann das Getrappel eines einzelnen
Pferdes, das an ihnen vorbei durch den Schnee galoppierte. Sie rappelte sich
hoch und sah, dass Withers die Augen geöffnet hatte und sich umschaute. Seine
verbundenen Arme lagen über der Decke auf seiner Brust, und sein Gesicht war
rot und schweißnass.
    »Sind wir da?«
    Sara befühlte seine Stirn mit dem Handgelenk.
Fieber schien er nicht zu haben, im Gegenteil, seine Haut war eher zu kalt. Sie
hob eine Feldflasche vom Boden auf und tröpfelte ihm ein bisschen Wasser in
den Mund. Kein Fieber, und trotzdem sah er viel schlechter aus. Anscheinend
konnte er den Kopf nicht mehr heben.
    »Ich glaube nicht.«
    »Dieses Jucken macht mich verrückt. Als ob
Ameisen über meine Arme krabbelten.«
    Sara schraubte die Flasche zu und legte sie
beiseite. Fieber hin oder her, seine Gesichtsfarbe war beunruhigend.
    »Das ist ein gutes Zeichen. Es bedeutet, dass
die Heilung im Gange ist.«
    »Fühlt sich aber nicht so an.« Withers holte
tief Luft und atmete langsam wieder aus. »Fuck.«
    Sancho lag in der Koje unter ihm, völlig
eingehüllt in Verbände. Nur der kleine, rosarote Kreis seines Gesichts schaute
hervor. Sara ging in die Knie und zog das Stethoskop aus ihrem Arztkoffer, um
seine Brust abzuhören. Sie hörte ein feuchtes Rasseln; es klang, als schwappte
ein wenig Wasser in einem Eimer umher. Er starb an Dehydration, und trotzdem
ertrank er in seiner eigenen Lunge. Seine Wangen waren glühend heiß, und die
Luft um ihn herum roch stechend nach Eiter und Entzündung.
    Sie zog ihm die Decke um die Schultern,
befeuchtete einen Lappen und betupfte damit seinen Mund.
    »Wie geht's ihm?«, fragte Withers von oben.
    Sara richtete sich auf.
    »Er ist bald hinüber, was? Ich sehe es dir am
Gesicht an.« Sie nickte. »Ich glaube, es dauert nicht mehr lange.« Withers
schloss die Augen wieder.
    Sie zog ihren Parka an und stieg hinten aus dem
Truck in den Schnee und die Sonne. Die geordneten Kolonnen der Soldaten hatten
sich zu Grüppchen von jeweils drei oder vier Männern aufgelöst, die herumstanden
und gelangweilt und ungeduldig die Stirn runzelten. Sie hatten ihre Kapuzen
über die Köpfe gezogen, und ihre Nasen liefen in der Kälte. Sara schaute nach
vorn und sah das Problem. Einer der Trucks stand mit offener Motorhaube da, und
weiße Dampfwolken stiegen in die Luft. Der Wagen war umringt von Soldaten, die
ihn ratlos anstarrten, als sei er ein riesiger Kadaver, den sie auf der Straße
gefunden hatten.
    Michael stand auf der Stoßstange und hatte die
Arme bis an die Ellenbogen im Motor vergraben. Greer schaute von seinem Pferd
auf ihn herunter. »Kriegen Sie es hin?«
    Michaels Kopf tauchte unter der Haube auf. »Ich
glaube, es ist nur ein Schlauch. Das

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