Cronin, Justin
gesehen. Etwas Schlimmes. Hollis und Sara sprangen hinten aus
ihrem Truck, und alles versammelte sich um Greer und Alicia, die beide abgestiegen
waren. Alicia deutete über den Höhenkamm und schwenkte den Arm in weitem Bogen.
Dann fiel sie auf die Knie und zeichnete hastig etwas in den Schnee. Als
Michael sie erreichte, hörte er, wie Greer fragte: »Wie viele?«
»Sie müssen letzte Nacht durchgekommen sein. Die
Spuren sind noch frisch.«
»Major Greer ...« Das war Sara.
Greer hob die Hand und schnitt ihr das Wort ab.
»Wie viele, verdammt?«
Alicia richtete sich auf. »Nicht viele. Die Vielen. Und sie ziehen geradewegs zu diesem Berg.«
64
Als Theo erwachte, schreckte er nicht hoch,
sondern hatte das Gefühl, ganz langsam in die Welt der Lebenden zu taumeln.
Seine Augen waren offen - schon eine ganze Weile, begriff er. Das Baby, dachte
er. Er tastete nach Mausami und fand sie neben sich. Sie bewegte sich, als er
sie berührte, und zog die Knie an. Das war es gewesen. Er hatte von dem Baby
geträumt.
Er war durchgefroren bis auf die Knochen, und
trotzdem war seine Haut schweißnass. Hatte er Fieber? Man musste schwitzen, nur
so ging das Fieber runter, das hatte die Lehrerin immer gesagt, und auch seine
Mutter, und sie hatte dabei sein Gesicht gestreichelt, während er glühend im
Bett gelegen hatte. Aber das war lange her, die Erinnerung an eine Erinnerung.
Er hatte seit so vielen Jahren kein Fieber mehr gehabt, dass er gar nicht mehr
wusste, wie es sich anfühlte.
Er schlug die Decke zur Seite und stand auf. Er
zitterte vor Kälte, und die Feuchtigkeit auf seiner Haut sog den letzten Rest
Wärme aus seinem Körper. Er trug dasselbe dünne Hemd, das er den ganzen Tag
getragen hatte, als er hinter dem Haus Holz gestapelt hatte. Der Winter konnte
kommen: Endlich war alles versorgt, verstaut und weggeschlossen. Er zog das
schweißnasse Hemd aus und wühlte ein frisches aus der kleinen Kommode. In einem
der Außengebäude hatte er Schränke voller Kleider gefunden, manche noch in der
Verkaufsverpackung: Hemden, Hosen, Socken, Thermo-Unterwäsche und Pullover aus
einem Material, das sich anfühlte wie Baumwolle, aber keine war. Mäuse und
Motten hatten ein paar Sachen angefressen, aber nicht alles. Wer immer diesen
Vorrat angelegt hatte, hatte langfristig gedacht. Er holte Stiefel und
Schrotgewehr von ihrem Platz neben der Tür und ging die Treppe hinunter. Das Feuer
im Wohnzimmer war zu glühender Asche heruntergebrannt. Er wusste nicht, wie
spät es war, aber vermutlich würde bald der Morgen dämmern. Er und Maus hatten
im Laufe der Wochen einen Rhythmus gefunden, sie hatten die Nächte verschlafen
und waren aufgewacht, wenn die ersten Sonnenstrahlen zum Fenster
hereinschienen, und so hatte er angefangen, die Zeit auf eine Weise zu
erfassen, die ganz natürlich und zugleich für ihn völlig neu war. Es war, als
habe er ein tief verborgenes Reservoir des Instinkts angezapft, ein lange Zeit
vergrabenes Stammesgedächtnis. Es lag nicht nur daran, dass es hier keine
Scheinwerfer gab, sondern an dem Ort an sich. Auch Maus hatte es gespürt, an
jenem ersten Tag, als sie zusammen zum Fluss gegangen waren, um zu angeln, und
später in der Küche, als sie ihm gesagt hatte, sie seien in Sicherheit.
Er setzte sich hin und zog die Stiefel an, nahm
einen dicken Pullover vom Haken, vergewisserte sich, dass das Gewehr geladen
war, und trat hinaus auf die Veranda. Im Osten, jenseits der Hügel, kroch ein
zartes Leuchten am Himmel herauf. In der ersten Woche, als Maus geschlafen
hatte, hatte er jede Nacht auf der Veranda verbracht und dabei leise Trauer
empfunden. Sein Leben lang hatte er die Dunkelheit und das, was sie bringen
konnte, gefürchtet. Niemand, nicht einmal sein Vater, hatte ihm erzählt, wie
schön der Nachthimmel war. Unter ihm fühlte man sich klein und gleichzeitig
groß, als Teil einer endlosen Ewigkeit. Einen Moment lang blieb er in der Kälte
stehen und atmete die Nachtluft ein und aus, bis Geist und Körper wirklich wach
waren. Wenn er schon auf war, konnte er auch gleich das Feuer anzünden, damit
Mausami nicht in einem eiskalten Haus aufwachen musste.
Theo trat von der Veranda hinunter und ging in
den Garten. Die letzten Tage hatte er fast nur damit verbracht, Holz zu holen
und zu hacken. Die Wälder am Fluss waren voll von totem Holz, trocken und gut
für den Ofen. Die Säge, die er gefunden hatte, taugte nichts mehr; die Zähne
waren stumpf vom Rost. Aber die Axt war gut. Jetzt lagerten die
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