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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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nicht mehr hin und her, und der schlammige Schnee, den die Räder
aufwirbelten, spritzte nicht mehr lärmend in die Radkästen unter ihr. Ihr war
übel und kalt; sie war durchgefroren bis auf die Knochen, und ihre Glieder
schmerzten vom stundenlangen Gerüttel. Die Kolonne aus Fahrzeugen, Pferden und
Männern bewegte sich ruckweise und mit Unterbrechungen voran. Immer wieder
warteten sie, bis Alicias Spähtrupp freie Bahn signalisierte. Das Ziel des
ersten Marschtages war Durango, wo eine befestigte Unterkunft in einem alten
Getreidesilo, einer von neun solchen Unterständen an der Nachschubstraße nach
Roswell, ihnen Sicherheit für die Nacht bieten würde.
    Sara hatte Peter mittlerweile verziehen, dass er
ohne ein Wort fortgegangen war. Anfangs war sie wütend auf ihn gewesen, als
Hollis mit der Neuigkeit in die Messe gekommen war, aber sie hatte Sancho und
Withers versorgen müssen, und deshalb hatte sie sich nicht lange mit solchen
Gefühlen befassen können. Und in Wahrheit hatte sie es kommen sehen -
vielleicht nicht unbedingt, dass Peter und Amy fortgehen würden, aber doch
etwas Ähnliches. Etwas Endgültiges. Wenn sie und Hollis über die Fahrt mit dem
Konvoi geredet hatten, hatte im Hintergrund immer die unausgesprochene Ahnung
gestanden, dass Peter und Amy nicht mitkommen würden.
    Michael dagegen war wütend gewesen. Mehr als
das, er hatte getobt. Hollis hatte ihn festhalten müssen, damit er nicht
hinter den beiden herritt. Seltsam, wie mutig, beinahe tollkühn Michael in den
letzten Monaten geworden war. Sie hatte sich immer als eine Art Ersatzmutter
empfunden, die für ihn verantwortlich war. Jetzt jedoch nicht mehr. Vielleicht
war es also gar nicht Michael, der sich verändert hatte, sondern sie selbst.
    Sie wollte unbedingt nach Kerrville. Der Name
schwebte mit schimmernder Schwerelosigkeit in ihrem Kopf. Dreißigtausend Seelen!
Unfassbar! Das weckte eine Hoffnung, die sie nicht mehr verspürt hatte, seit
die Lehrerin sie aus der Zuflucht in eine zerbrochene Welt hinausgeführt
hatte. Denn die Welt war nicht zerbrochen.
Das kleine Mädchen Sara, das in der Zuflucht geschlafen und mit ihren
Freundinnen gespielt und beim Schaukeln an dem Reifen im Hof die Sonne im
Gesicht gefühlt und geglaubt hatte, die Welt sei ein herrlicher Ort, und sie
werde ein Teil davon sein - dieses kleine Mädchen hatte die ganze Zeit recht
gehabt. Ein so einfacher Wunsch: ein Mensch zu sein und ein ganz normales
Leben zu führen. In Kerrville würde sie es bekommen, zusammen mit Hollis. Mit
Hollis, der sie liebte und es ihr immer wieder sagte. Es war, als habe er etwas
in ihr geöffnet, etwas, das lange Zeit fest zugesperrt gewesen war, denn das
Gefühl hatte sie sofort erfüllt, gleich in jener ersten Nacht auf der Wache,
irgendwo in Utah, als er sein Gewehr hingelegt und sie geküsst hatte, und dann
jedes Mal wieder, wenn er die Worte auf seine stille, beinahe verlegene Art
aussprach, so nah an ihr, dass sie seine Bartzotteln an der Wange spüren
konnte: als offenbare er eine tiefe Wahrheit über sich selbst. Er hatte ihr
gesagt, dass er sie liebte, und sie hatte ihn auch geliebt, sofort und
grenzenlos. Sie glaubte nicht an das Schicksal; die Welt war voller Zufälle,
eine Kette von Missgeschicken, denen man mit knapper Not entkam, bis man es
eines Tages nicht tat. Trotzdem fühlte sich die Liebe zu Hollis so an: wie eine
Fügung des Schicksals. Als ständen die Worte längst irgendwo geschrieben, und
sie brauchte die Geschichte nur noch zu leben. Ob ihre Eltern genauso füreinander
empfunden hatten? Sie dachte nicht gern an sie und vermied es nach Möglichkeit,
aber jetzt, als sie hinten in dem kalten Lastwagen saß, wünschte sie sich
unversehens, sie lebten noch, damit sie ihnen diese Frage stellen könnte.
    Es war Michael gewesen, der arme Michael, der
die beiden an jenem Morgen im Schuppen gefunden hatte. Elf war er damals
gewesen, und Sara war gerade fünfzehn geworden. Im Grunde ihres Herzens hatte
sie immer geglaubt, ihre Eltern hätten nur gewartet, bis sie alt genug war, um
für ihren Bruder zu sorgen, und in den Überlegungen zu dem, was sie dann getan
hatten, habe ihr Geburtstag eine Rolle gespielt. Als sie Michael schreien
hörte, war sie aus dem Bett gesprungen und die Treppe hinunter und durch den
Garten zum Schuppen gerannt. Er hatte die Arme um die Beine der beiden
geschlungen und versucht, sie hochzuhalten. Sie hatte sprachlos und wie gelähmt
in der Tür gestanden, während Michael sie weinend anflehte,

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