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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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die Wände herunter.
    Er drehte sich um. »Amy, wo ...«
    Aber sie war verschwunden. Er entdeckte sie ein
Stück weiter vorne und stapfte hinterdrein. Amy lief immer schneller, ja sie
rannte jetzt beinahe. Durch den Nebel der Erschöpfung drang langsam die
Erkenntnis, dass sie am Ende ihrer Reise angekommen waren. Jedenfalls waren sie
kurz davor. Etwas entwich aus ihm: Seine Kräfte, verzehrt von der Kälte,
verließen ihn endgültig.
    »Amy«, rief er. »Warte.«
    Sie schien ihn nicht zu hören.
    »Amy, bitte.«
    Sie drehte sich um.
    »Was ist denn hier?«, fragte er flehentlich.
»Hier ist nichts.«
    »Doch, Peter.« Sie strahlte vor Freude. »Doch.«
    »Wo denn?« Er hörte den Zorn in seiner Stimme.
Die Hände auf die Knie gestützt, rang er keuchend nach Atem. »Sag mir, wo es
ist.«
    Sie hob das Gesicht zum dunklen Himmel und
schloss die Augen. »Es ist... überall«, sagte sie. »Hör doch.«
    Er tat sein Bestes. Mit den letzten Resten
seiner Kraft ließ er seine Sinne ins Weite tasten. Aber da war nichts als der
Wind.
    »Da ist nichts«, sagte er, und seine Hoffnung
zerbrach. »Amy, hier ist nichts.«
    Aber dann hörte er es.
    Eine Stimme. Eine menschliche Stimme.
    Irgendwo sang jemand.
     
    Den Funkmasten sahen sie zuerst. Er ragte
zwischen den Bäumen auf.
    Der Wald hatte sich geöffnet, und sie waren auf
einer Lichtung. Ringsumher sah Peter die Spuren menschlicher Behausungen, die
angedeuteten Umrisse von Ruinen und verlassenen Fahrzeugen unter dem Schnee.
Der Funkmast stand am Rand einer breiten Bodensenke voller Schutt; anscheinend
waren es die Fundamentreste eines Gebäudes, das schon lange verschwunden war.
Die Antenne war mindestens hundert Meter hoch, ein vierbeiniger Stahlturm,
gesichert mit Stahltrossen, die in Beton verankert waren. Auf der Spitze saß
eine graue, mit Stacheln besetzte Kugel. Darunter, rings um den Mast und
seitwärts ausgestreckt wie Blütenblätter, befanden sich paddelartige Objekte.
Vielleicht waren es Sonnenkollektoren; Peter wusste es nicht. Er legte eine
Hand an den kalten Stahl. Auf einer der Streben stand eine Inschrift. Er
wischte den Schnee ab und legte die Worte frei.
    UNITED STATES ARMY CORPS OF ENGINEERS.
    »Amy ...«
    Aber sie war nicht mehr bei ihm. Etwas bewegte
sich am Rand der Lichtung, und er ging rasch dorthin, ins Dickicht. Der Gesang
war jetzt lauter. Er hörte keine Worte, vielmehr eine Kaskade von Tönen, die
vom Wind aus allen Richtungen herangeweht wurde. Weit konnte es nicht mehr
sein. Er spürte, dass etwas vor ihm war, etwas Offenes. Die Bäume teilten
sich, der Himmel trat hervor. Amy war stehen geblieben, und er kam zu ihr.
    Es war eine Frau. Sie stand mit dem Rücken zu
ihnen im Vorgarten einer kleinen Blockhütte. Die Fenster waren erleuchtet, und
Rauch kräuselte sich aus dem Kamin. Die Frau schüttelte eine Wolldecke aus,
und weitere Decken hingen an einer Leine zwischen zwei Bäumen. Es dauerte eine
Weile, bis er es endlich begriff: Diese Frau, wer immer sie war, legte Wäsche
zusammen. Sie legte Wäsche zusammen und sang dabei. Sie trug einen schweren
Wollmantel, und ihr schwarzes, von schneeweißen Strähnen durchzogenes Haar
floss in dichten, wolkigen Massen über ihre Schultern. An den Füßen unter dem
Saum ihres Mantels trug sie anscheinend nur ein Paar Hanfsandalen, und ihre
Zehen bohrten sich in den Schnee.
    Peter und Amy gingen auf sie zu, und die Worte
ihres Liedes nahmen allmählich Gestalt an. In ihrer vollen, kehligen Stimme lag
eine geheimnisvolle Zufriedenheit. Singend ging sie ihrer Arbeit nach; sie
legte die Decken in einen Korb zu ihren Füßen und schien die beiden überhaupt
nicht zu bemerken, obwohl Amy und Peter jetzt nur wenige Schritte hinter ihr
standen.
     
    Schlaf, mein Kind, sang
die Frau,
    Schlaf nur in Frieden,
    Schlaf die ganze Nacht.
    Engel sendet Gott hienieden,
     Schlaf die ganze Nacht.
    Sanft im Traum vergehn die Stunden,
    Berg und Tal, sie schlummern sacht.
    Wenn du Ruhe hast gefunden,
    Halte ich bei dir die Wacht.
     
    Sie brach ab, und ihre Hände verharrten über der
Wäscheleine. »Amy.«
    Die Frau drehte sich um. Sie hatte ein breites,
hübsches Gesicht, die Haut so dunkel wie bei Auntie. Aber es war keine alte
Frau, die da stand. Ihre Haut war glatt, ihr Blick klar und hell. Ein
strahlendes Lächeln legte sich auf ihr Gesicht.
    »Oh, wie schön, dich zu sehen.« Ihre Stimme
klang wie Musik. Sie kam auf sie zu, nahm Amys Hände und hielt sie mit
mütterlicher Zärtlichkeit fest. »Meine kleine Amy, ganz

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