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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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wusste Lacey. »Ich kann auf Amy
aufpassen.«
    Lacey sah die Kleine an. Ihr Haar war zerzaust
vom Schlafen, doch ihre Haut und ihre Augen leuchteten ausgeruht. Lacey fuhr
ihr mit den Fingerspitzen durch den Pony. »Das ist sehr nett von dir«, sagte
sie. »Vielleicht kannst du heute, nur ausnahmsweise, weil Amy hier ist...«
    »Sprich nicht weiter«, sagte Schwester Claire
und fiel ihr lachend mit erhobener Hand ins Wort. Erleichterung durchströmte
Lacey. »Ich spring für dich ein.«
    Der bevorstehende Tag nahm in ihrem Kopf Gestalt
an, und als sie jetzt am Tisch saß, erinnerte sie sich an ihren Plan mit dem
Zoo. Wann öffnete er? Und wie war es mit dem Regen? Am besten, sie ging den
Schwestern aus dem Weg, dachte sie. Nicht nur, weil sie sich fragen würden,
warum Lacey nicht in der Messe gewesen war - sie würden vielleicht auch
anfangen, Fragen wegen Amy zu stellen. Bis jetzt hatte die Lüge funktioniert,
aber Lacey spürte, wie mürbe sie war - wie morsche Bodendielen unter ihren
Füßen.
    Als Amy ihre Waffeln und ein großes Glas Milch
vertilgt hatte, ging Lacey mit ihr zurück nach oben und zog sie rasch an: eine
frische Jeans, ganz steif, weil sie so neu war, und ein T-Shirt mit dem von
Pailletten umrahmten Aufdruck »Frechdachs«. Nur Schwester Claire konnte die
Kühnheit besitzen, so etwas auszusuchen. Schwester Arnette würde das T-Shirt
überhaupt nicht gefallen. Wenn sie es sähe, würde sie wahrscheinlich seufzen
und den Kopf schütteln, und die Luft im Zimmer würde sich mit einem sauren
Geruch erfüllen. Doch Lacey wusste, dass das Shirt perfekt war - genau das, was
ein kleines Mädchen gern tragen würde. Die Pailletten machten es zu etwas
Besonderem, und sicher würde Gott wollen, dass ein Kind wie Amy so etwas
bekam: ein bisschen Glück, und sei es noch so klein. Im Bad wusch sie ihr den
Sirup von den Wangen und bürstete ihr das Haar, und dann zog sie sich selbst
an: den üblichen grauen Faltenrock, die weiße Bluse und die Haube. Der Regen
draußen hatte aufgehört; warmer Sonnenschein breitete sich gemächlich im
Garten aus. Es würde ein heißer Tag werden, vermutete Lacey; eine Hitzewelle
folgte von Süden her auf die Kaltfront, die während der ganzen Nacht den Regen
über das Haus getrieben hatte.
    Sie hatte ein bisschen Bargeld, genug für
Eintrittskarten und etwas Süßes, und zum Zoo konnten sie natürlich zu Fuß
gehen. Sie traten hinaus in eine Luft, die sich allmählich mit Wärme und dem
süßen Duft des nassen Grases füllte. Die Kirchenglocken hatten angefangen zu
läuten; die Messe würde jeden Augenblick vorbei sein. Schnell führte sie Amy
durch das Gartentor, durch den würzigen Duft der Kräuter - Rosmarin, Estragon
und Basilikum -, die Schwester Louise so sorgsam pflegte, und hinaus in den
Park, wo sich schon jetzt die Leute sammelten, um den ersten warmen
Frühlingstag zu genießen und die Sonne zu kosten und auf der Haut zu spüren:
junge Leute mit Hunden und Frisbees, Jogger, die keuchend auf den Wegen
entlangliefen, und Familien, die Klapptische und Grills aufstellten. Der Zoo
lag am Nordende des Parks, flankiert von einer breiten Hauptstraße, die das
Viertel zerschnitt wie eine Klinge. Die großen Häuser und die weiten,
majestätischen Rasenflächen der alten Midtown auf der anderen Seite waren
vergessen; an ihrer Stelle standen ärmliche Einfamilienhäuser mit
eingestürzten Veranden und halb zerlegten Schrottautos, die langsam im Lehm der
Vorgärten versanken. Junge Männer lungerten dort wie Tauben auf den Straßen
herum, ließen sich an dieser oder jener Ecke nieder und gingen dann weiter, und
über allem lag eine betäubende Langeweile von unbestimmter Bedrohlichkeit.
Lacey hätten die Leute dort eigentlich mehr ans Herz gehen müssen, aber die
Schwarzen, die in dieser Gegend wohnten, waren anders als sie, die nie arm
gewesen war, zumindest nicht auf diese Weise. In Sierra Leone hatte ihr Vater
beim Ministerium gearbeitet; ihre Mutter hatte einen Wagen und einen Fahrer
gehabt, der sie zum Einkaufen nach Freetown oder zu Polo-Spielen gefahren
hatte, und einmal waren sie auf einer Party gewesen, wo angeblich der Präsident
persönlich mit ihr einen Walzer getanzt hatte.
    Am Rande des Zoos veränderte sich die Luft; sie
roch jetzt nach Erdnüssen und Tieren. Am Eingang hatte sich schon eine
Schlange gebildet. Lacey kaufte die Eintrittkarten und zählte das Wechselgeld
sorgfältig ab, und dann nahm sie Amy wieder bei der Hand und ging mit ihr
durch das Drehkreuz. Amy

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