Cronin, Justin
Schwester Arnette hatte die ganze Geschichte erst erfahren,
als das Büro der Generaloberin den psychiatrischen Bericht geschickt hatte.
Arnette erinnerte sich, dass sie in den Nachrichten etwas darüber gehört hatte,
vor all den Jahren, aber passierte so etwas nicht immer irgendwo, vor allem in
Afrika? In diesen furchtbaren kleinen Ländern, wo ein Menschenleben
anscheinend nichts wert war und Sein Wille seltsamer und undurchschaubarer war
als irgendwo sonst? Es war herzzerreißend, entsetzlich, doch der Verstand
konnte solche Geschichten letztlich nur in begrenzter Zahl fassen. Arnette
hatte das alles wieder vergessen, und jetzt war Lacey hier, in ihrer Obhut, und
niemand sonst kannte die Wahrheit. Lacey war, das musste sie zugeben, in fast
jeder Hinsicht eine vorbildliche Schwester, wenn auch ein bisschen
verschlossen, vielleicht ein wenig zu mystisch in ihrer Frömmigkeit. Lacey
behauptete - und zweifellos glaubte sie es auch -, ihre Eltern und ihre
Schwestern seien noch in Sierra Leone, wo sie zu Bällen im Palast gingen und
ihre Polo-Pferde ritten. Seit dem Tag, an dem sie von UN-Friedenstruppen in
ihrem Versteck auf einem Feld gefunden und zu den Schwestern gebracht worden
war, hatte sie nie etwas anderes gesagt. Das war natürlich eine Gnade; es war
Gottes Barmherzigkeit, die sie vor der Erinnerung an das Geschehene
beschützte. Denn nachdem die Soldaten ihre Familie ermordet hatten, waren sie
nicht einfach weggegangen. Sie waren bei Lacey auf dem Feld geblieben, Stunden
um Stunden, und das kleine Mädchen, das sie dann für tot gehalten hatten, hätte
ebenso gut tot sein können,
wenn Gott sie nicht beschützt hätte, indem er diese Ereignisse aus ihrem Kopf
getilgt hatte. Dass Er beschlossen hatte, sie in diesem Augenblick nicht zu
Sich zu nehmen, war nur ein Ausdruck Seines Willens, den Arnette nicht in
Frage zu stellen hatte. Es war eine Bürde, dieses Wissen und die Sorge, die es
begleitete, und Arnette musste sie schweigend tragen.
Aber jetzt war das Mädchen da. Diese Amy.
Äußerst höflich, still wie ein Geist - aber war es nicht offensichtlich, dass
die ganze Sache nicht stimmte? Sie war völlig unglaubwürdig. Jetzt, da sie
darüber nachdachte, war Laceys Geschichte alles andere als plausibel. Sie war
eine Freundin der Mutter? Unmöglich. Außer zur Morgenmesse verließ Lacey kaum
jemals das Haus. Wie sie Kontakt zu einer solchen Frau hätte finden sollen -
zumal zu einer Frau, die ihr ihre Tochter anvertraute -, das wusste Arnette
nicht. Es war auch nicht zu erklären, denn die Geschichte war erlogen. Und
jetzt waren die beiden verschwunden.
Als es halb elf war, wusste Schwester Arnette,
was sie zu tun hatte.
Aber was sollte sie sagen? Wo sollte sie
anfangen? Bei Amy? Keine der anderen Schwestern wusste anscheinend mehr über
das Kind. Als es abgegeben wurde, war Lacey allein im Haus gewesen, wie so oft.
Arnette versuchte immer wieder, sie hinauszulocken, in die Volksküche oder in
den Supermarkt oder sonstwohin, aber Lacey lehnte stets ab, und in solchen
Momenten strahlte ihr Gesicht eine so fröhliche Leere aus, dass die Frage
augenblicklich erledigt war. Nein danke, Schwester.
Vielleicht ein andermal. Drei, vier Jahre lang,
und jetzt erschien von nirgendwoher ein Kind, und Lacey behauptete es zu kennen.
Wenn sie die Polizei anriefe, würde die Geschichte also dort beginnen müssen,
begriff sie: bei Lacey und der Geschichte von dem Feld.
Arnette griff zum Telefonhörer.
»Schwester?«
Sie drehte sich um: Schwester Claire. Claire,
die soeben in die Küche gekommen war, immer noch im Jogginganzug, obwohl sie
sich längst für die Tagesarbeit hätte umziehen müssen. Claire, die Immobilien
verkauft hatte, die nicht nur verheiratet gewesen, sondern geschieden war, und die immer noch ein paar hochhackige Schuhe und ein
schwarzes Cocktailkleid in ihrem Schrank aufbewahrte. Aber das war ein ganz
anderes Problem, über das sie jetzt nicht nachdenken konnte.
»Schwester«, sagte Claire in sorgenvollem Ton,
»da ist ein Auto in der Einfahrt.«
Arnette legte den Hörer wieder auf. »Wer ist
es?«
Claire zögerte. »Es sieht aus wie ... die
Polizei.«
Arnette war schon an der Haustür, als es
klingelte. Sie zog die Gardine am Fenster daneben zur Seite, um
hinauszuschauen. Zwei Männer, der eine in den Zwanzigern, der andere älter,
aber immer noch ein junger Mann für sie, und beide trugen dunkle Anzüge und
Krawatten. Polizei, wenngleich nicht ganz. Etwas Ernsthaftes, Offizielles
zweifellos. Sie
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