Cronin, Justin
trug Shorts, ein T-Shirt und Flip-Flops. Durch das T-Shirt konnte
Lacey den immer noch schlaffen Bauch der Frau erkennen. Das kam bestimmt von
der Schwangerschaft. Der Mann stand hinter ihr. Er bewachte den leeren
Kinderwagen und hielt seine Kamera in der Hand.
»Ich glaube, die mögen dich, Süße«, sagte die
Frau zu Amy. »Sieh doch, Mäuschen«, sang sie und ließ das Baby auf und ab
wippen, sodass es mit den Armen flatterte wie ein Vogel. »Da sind die
Eisbären. Da sind die Eisbären, mein Mäuschen. Schatz, knips uns. Knips ... uns
... doch.«
»Ich kann nicht«, sagte der Mann. »Du schaust in
die falsche Richtung. Du musst sie umdrehen.«
Die Frau seufzte genervt. »Na los, jetzt knips
schon, solange sie lacht. Ist das so schwer?«
Lacey beobachtete das alles, und dann geschah
es: ein zweites Klatschen und, ehe sie sich umdrehen konnte, ein drittes. Das
Glas vor ihr schien sich zu wölben. Eine Welle schwappte über die Scheibe
hinweg und ergoss sich auf die Zuschauermenge. Alle sahen, was passierte, aber
niemand konnte etwas tun.
»Vorsicht!«
Das eiskalte Wasser traf Lacey wie ein Schlag
und füllte Nase, Mund und Augen mit Salzgeschmack. Sie fuhr zurück. Schreie
ertönten wie im Chor um sie herum. Neben ihr hörte sie das Baby weinen, und dann
die Mutter: Weg hier, weg! Lacey
wurde angerempelt, und sie merkte, dass sie die Augen geschlossen hatte, um sie
vor dem brennenden Salzwasser zu schützen. Sie taumelte rückwärts, stolperte
und fiel auf ein Knäuel von Menschen. Sie wartete auf das Krachen des
berstenden Glases, auf das Rauschen des entfesselten Wassers.
»Amy!«
Sie riss die Augen auf und sah, dass ein Mann
sie anstarrte, nur eine Handbreit von ihrem Gesicht entfernt. Es war der Mann
mit der Kamera. Dann war alles still. Das Glas hatte gehalten.
»Verzeihung«, sagte der Mann. »Alles in Ordnung,
Schwester? Ich muss gestolpert sein.«
»Verdammt noch mal!«, schrie die Frau. Sie stand
vor ihnen, Kleider und Haare durchnässt. Das Baby schrie an ihrer Schulter, und
ihr Gesicht war wütend. »Was hat Ihre Göre getan?«
Lacey begriff, dass sie mit ihr sprach.
»Es tut mir leid ...«, begann sie. »Ich habe
nicht...«
»Sehen Sie doch, was sie macht!«
Die Menge war vor der Glasscheibe
zurückgewichen, und alle Blicke waren auf das kleine Mädchen mit dem Rucksack
gerichtet, das davor kniete und die Hände an die Scheibe gelegt hatte. Die
vier Eisbären drängten sich vor ihr zusammen.
Lacey rappelte sich auf und trat rasch neben
sie. Amy hielt den Kopf gesenkt, und das Wasser tropfte ihr von den Haaren auf
die Knie. Lacey sah, dass sie die Lippen bewegte wie im Gebet.
»Amy, was ist denn?«
»Das Kind spricht mit den Eisbären!«, rief
jemand, und ein erstauntes Raunen ging durch die Menge. »Seht euch das an, seht
euch das an!«
Kameras klickten. Lacey hockte sich neben Amy
und strich ihr die dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Tränen liefen über
Amys Wangen und mischten sich mit dem Wasser aus dem Becken. Irgendetwas ging
hier vor sich. »Sag's mir, Kind.«
»Sie wissen es«, sagte Amy leise und drückte die
Hände an die Scheibe.
»Was wissen die Eisbären?«
Das Mädchen sah sie an. Lacey war wie vom Donner
gerührt; noch nie hatte sie so viel Trauer im Blick eines Kindes gesehen, so
viel leidvolles Wissen. Aber als sie ihr forschend in die Augen schaute, sah
sie keine Angst. Was immer Amy hier erfahren hatte, sie hatte es akzeptiert.
»Was ich bin«, sagte sie.
Schwester Arnette saß in der Küche im Konvent
der Barmherzigen Schwestern, und sie hatte beschlossen, etwas zu unternehmen.
Es wurde neun Uhr, neun Uhr dreißig, zehn. Lacey
und das Mädchen waren immer noch nicht zurück von dort, wohin sie gegangen
waren. Schwester Claire hatte die Geschichte letztlich preisgegeben: Lacey habe
die Messe geschwänzt, die beiden seien kurz danach weggegangen, und das Kind
habe seinen Rucksack mitgenommen. Claire habe vom Fenster aus gesehen, wie sie
durch das Gartentor in Richtung Park gegangen waren.
Lacey führte irgendetwas im Schilde. Arnette
hätte es wissen müssen.
An der Geschichte mit dem Kind stimmte etwas
nicht, das hatte sie sofort gewusst - vielleicht nicht gewusst, aber doch
gespürt, und aus dem Saatkorn des Argwohns war über Nacht die Gewissheit
gewachsen, dass hier etwas nicht in Ordnung war. Schwester Arnette wusste es einfach.
Und jetzt war ein kleines Mädchen verschwunden.
Keine der anderen Schwestern wusste Bescheid
über Lacey. Selbst
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