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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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ganze Sache schon
vorbei. Das war der Augenblick, in dem man anfing, jemanden tatsächlich zu
mögen, und das war ein Problem. Danach brach alles sehr schnell auseinander.
    Carter war nichts Besonderes - ein ganz gewöhnlicher
Häftling, der nichts weiter einzutauschen hatte als sein Leben. Aber das Kind:
Wozu brauchte Lear ein sechsjähriges Mädchen?
    Richards drehte sich zu den Monitoren um und
griff zum Kopfhörer. Babcock war wieder in der Ecke und schwatzte vor sich hin.
Es war komisch: Irgendetwas an Babcock ließ ihm keine Ruhe. Es war, als gehörte
Richards ihm, als besäße Babcock ein
Stück von ihm. Das war ein Gefühl, das er nicht abschütteln konnte. Stundenlang
konnte er dasitzen und dem Kerl zuhören. Manchmal schlief er mit dem Kopfhörer
vor dem Monitor ein.
    Wieder sah er auf die Uhr. Er wusste, dass er es
nicht tun sollte, aber er konnte nicht anders. Es war kurz nach drei. Er hatte
keine Lust mehr, FreeCell zu spielen. Zum Teufel mit diesem kleinen Scheißer in
Seattle. Das stundenlange Warten auf den Van kam ihm plötzlich wie ein gähnendes
Maul vor, das ihn mit Haut und Haaren zu verschlingen drohte.
    Er kam nicht dagegen an. Er regelte die
Lautstärke und lehnte sich zurück, um zuzuhören, und er fragte sich, was die
Laute, die er da hörte, ihm zu sagen hatten.
     
    6
     
    Lacey wachte auf, allein. Sie hörte nur den
Gesang der Vögel und das sanfte Rauschen des Regens, der auf das Laub vor ihrem
Fenster wehte. Amy.
    Wo war Amy?
    Sofort stand sie auf, warf sich den Bademantel über
und lief die Treppe hinunter. Aber als sie unten ankam, hatte die Panik schon
nachgelassen. Sicher war das Kind einfach aufgestanden, um sich auf die Suche
nach einem Frühstück zu machen, um fernzusehen oder um sich einfach umzuschauen.
Lacey fand das Mädchen in der Küche am Tisch, noch im Pyjama und mit einem
Teller Frühstückswaffeln vor sich. Schwester Claire saß am Kopfende des breiten
Tisches, im Jogginganzug nach ihrem Lauf durch den Overton Park. Sie trank
Kaffee und las den Commercial Appeal. Schwester
Claire war noch keine richtige Schwester, sondern Novizin. Die Schultern ihres
Sweatshirts waren gesprenkelt vom Regen, und ihr Gesicht war feucht und rot.
    Sie ließ die Zeitung sinken und lächelte Lacey
an. »Schön, du bist wach. Wir haben schon gefrühstückt, nicht, Amy?«
    Die Kleine nickte und kaute. Bevor sie in den
Orden eingetreten war, hatte Schwester Claire in Seattle Häuser verkauft, und
als Lacey sich an den Tisch setzte, sah sie, was die Schwester gelesen hatte:
den Immobilienteil der Sonntagsausgabe. Wenn Schwester Arnette das gesehen
hätte, wäre sie erzürnt gewesen, das wusste sie, und vielleicht hätte sie sogar
eine ihrer spontanen Predigten über die Ablenkungen des materiellen Lebens
gehalten. Aber nach der Uhr am Herd war es kurz nach acht: Die anderen
Schwestern waren nebenan in der Messe. Lacey verspürte jähe Verlegenheit. Wie
hatte sie so lange schlafen können?
    »Ich war schon in der Frühmesse«, sagte Claire,
als habe sie ihre Gedanken gelesen. Schwester Claire ging oft vor dem Joggen
in die Sechs-Uhr-Messe. Ihr tägliches Laufen bezeichnete sie auch als Besuch
bei »Unserer Lieben Frau von den Endorphinen«. Anders als die übrigen
Schwestern, die nie etwas anderes gewesen waren, hatte Claire früher ein ganz
normales Leben geführt, das nichts mit dem Orden zu tun gehabt hatte: Sie war
verheiratet gewesen, hatte Geld verdient und Dinge besessen, zum Beispiel eine
Eigentumswohnung und einen Honda Accord. Ihre Berufung hatte sie erst verspürt,
als sie Ende dreißig und von dem Mann geschieden war, den sie einmal als den
»schlimmsten Ehemann der Welt« bezeichnet hatte. Einzelheiten kannte da
niemand außer vielleicht Schwester Arnette, und für Lacey war Claires Leben
ein Quell des Staunens. Wie konnte ein Mensch zwei Leben haben, die sich so
sehr voneinander unterschieden? Manchmal sagte Claire Dinge wie »Die Schuhe da
sind süß« oder »Das einzige gute Hotel in Seattle ist das Vintage Park«, und
dann verfielen alle Schwestern in ein verdattertes Schweigen, das nur halb aus
Missbilligung, halb aber auch aus Neid bestand. Claire war diejenige gewesen,
die für Amy einkaufen gegangen war, und unausgesprochen war damit gesagt
worden, dass sie die Einzige unter ihnen war, die davon etwas verstand.
    »Wenn du dich beeilst, schaffst du es noch zur
Acht-Uhr-Messe«, schlug Claire vor. Aber natürlich war es zu spät. Eigentlich
meinte Claire etwas anderes, und das

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