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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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ihn
anfeuerten. Das Gefühl, selbst noch sehr klein zu sein, kaum größer als ein
Baby, und die Geräusche und Lichter der Welt um ihn herum, die ihm sagten, dass
er wohlbehütet war. Er war jetzt im Vorzimmer des Schlafes, dort, wo Träume und
Erinnerungen sich mischten und ihre seltsamen Geschichten erzählten. Aber ein
Teil seiner selbst saß immer noch im Wagen und lauschte dem Regen.
    »Ich muss mal.«
    Seine Augen klappten auf. Es regnete nicht mehr.
Wie lange hatte er geschlafen? Es war dunkel im Wagen; die Sonne war untergegangen.
Doyle hatte den Oberkörper nach hinten gedreht und schaute zum Rücksitz.
    »Was hast du gesagt?«, fragte er.
    »Ich muss mal«, stellte das Mädchen fest.
Wolgast und Doyle fuhren zusammen, als sie ihre Stimme nach dem stundenlangen
Schweigen hörten: klar und kräftig. »Aufs Klo.«
    Doyle sah Wolgast nervös an. »Soll ich
mitgehen?«, fragte er, aber Wolgast wusste, dass er es nicht wollte.
    »Nicht du«, sagte
Amy. Sie saß jetzt aufrecht und hielt ihren Hasen im Arm, ein schlaffes Ding,
schmutzig und abgegriffen. Sie beäugte Wolgast im Rückspiegel, hob die Hand und
zeigte auf ihn. »Er.«
    Wolgast öffnete seinen Sicherheitsgurt und stieg
aus. Die Luft war kühl und still. Im Südosten sah er das abziehende Gewitter;
es ließ einen trockenen Himmel zurück, blau-schwarz wie Tinte. Er drückte auf den
Verriegelungsknopf an seinem Autoschlüssel, und Amy kletterte heraus. Sie
hatte den Reißverschluss an ihrer Sweatshirt-Jacke geschlossen und die Kapuze
über den Kopf gezogen.
    »Okay?«, fragte er.
    »Nicht hier«, sagte
sie.
    Wolgast sagte nichts vom Weglaufen. Es hatte
keinen Sinn. Wohin sollte sie laufen? Er ging mit ihr zehn, fünfzehn Schritte
den Weg hinunter, weg von den Lichtern des Tahoe, und er schaute weg, als sie
sich am Graben ihre Hose herunterzog.
    »Du musst mir helfen.«
    Wolgast drehte sich um. Sie sah ihn an; ihre
Jeans und ihre Unterhose knüllten sich um ihre Fußknöchel. Sein Gesicht wurde
warm vor Verlegenheit.
    »Was soll ich machen?«
    Sie streckte beide Hände aus. Ihre Finger
fühlten sich winzig an, und ihre Handflächen waren feucht von kindlicher Wärme.
Er musste sie festhalten, als sie sich zurücklehnte, sodass sie fast mit ihrem
ganzen Gewicht an ihm hing, bis sie in der Hocke über dem Graben schwebte wie
ein Klavier an einem Kran. Wo hatte sie das gelernt? Wer sonst hatte ihre
Hände schon so festgehalten?
    Als sie fertig war, wandte er sich ab, damit sie
ihre Hosen wieder hochziehen konnte.
    »Du brauchst keine Angst zu haben, Süße.«
    Amy antwortete nicht, aber sie traf auch keine
Anstalten, zum Tahoe zurückzukehren. Die Felder ringsum waren leer, und die
Luft war still wie zwischen zwei Atemzügen. Wolgast konnte alles fühlen: die
Leere dieser Felder, die Tausende von Meilen, die sich in alle Himmelsrichtungen
dehnten. Er hörte, wie die Beifahrertür des Tahoe geöffnet und wieder
zugeschlagen wurde: Doyle ging pinkeln. Weit im Süden verrollte das ferne Echo
des Donners, und dahinter ertönte ein neues Geräusch: eine Art Klingeln, wie
von Glocken.
    »Wir können Freunde sein, wenn du willst«,
schlug er vor. »Wäre das okay?«
    Sie war ein seltsames Kind, dachte er wieder.
Warum hatte sie nie geweint? Sie hatte auch nie nach ihrer Mutter gefragt und
nie gesagt, sie wolle nach Hause oder auch nur in den Konvent. Wo war ihr Zuhause?
In Memphis vielleicht, aber sein Gefühl sagte ihm, dass es dort nicht war. Es
war nirgendwo. Was immer ihr passiert sein mochte, es hatte den Gedanken an zu
Hause ausgelöscht.
    »Ich hab keine Angst«, sagte sie jetzt. »Wir
können zurück zum Auto, wenn du willst.«
    Einen Moment lang schaute sie ihn nur an,
taxierte ihn, wie es anscheinend ihre Art war. Seine Ohren hatten sich an die
Stille gewöhnt, und jetzt war er sicher, dass er Musik hörte, verzerrt durch
die Entfernung. Irgendwo an der Straße, auf der sie fuhren, spielte jemand
Musik.
    »Ich bin Brad.« Das Wort fühlte sich nichtssagend
und schwer im Mund an.
    Sie nickte.
    »Und der andere Mann heißt Phil.«
    »Ich weiß, wie ihr heißt. Ich habe euch reden
hören.« Sie verlagerte ihr Gewicht. »Ihr dachtet, ich höre nicht zu, aber ich
hab's doch getan.«
    Ein unheimliches Kind. Und clever außerdem. Er
hörte es an ihrer Stimme, sah es an dem Blick, mit dem sie ihn musterte, und
daran, wie sie das Schweigen nutzte, um ihn zu prüfen und ihn zum Reden zu
bringen. Es war, als spreche er mit einer sehr viel älteren Person, und

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