Cronin, Justin
Katze. Was immer in
ihrem Leben bisher geschehen sein mochte, sie hatte dabei gelernt, zu warten.
Jedes Mal, wenn er sie gefragt hatte, ob sie anhalten sollten, damit sie zur
Toilette gehen oder etwas essen könnte - die Cracker und die inzwischen warme,
verdorbene Schokomilch hatte sie nicht angerührt -, hatten ihre Lider sich
beim Klang ihres Namens mit katzenhafter Schnelligkeit geöffnet, und ihre Augen
hatten ihn eine Sekunde lang im Rückspiegel angeschaut, mit einem vorwurfsvollen
Blick, der ihn durchbohrte wie ein meterlanger Eiszapfen. Dann hatte sie die
Augen wieder geschlossen. Er hatte ihre Stimme seit dem Zoo vor mehr als acht
Stunden nicht mehr gehört.
Lacey. So hieß die Nonne. Die Amy festgehalten
hatte, als ginge es um Leben und Tod. Als Wolgast daran dachte, an dieses
grässliche menschliche Tauziehen auf dem Parkplatz, an das Schreien und
Kreischen, krampften sich seine Eingeweide vor Schmerz zusammen. Hey,
Lila, weißt du was? Ich habe heute ein Kind gestohlen, jetzt haben wir jeder
eins. Wie findest du das?
Doyle regte sich auf dem Beifahrersitz. Er
richtete sich auf und rieb sich die Augen. Sein Blick ging ausdruckslos ins
Leere. Wolgast wusste, dass sein Bewusstsein erst wieder zusammenfügen musste,
wo er war. Doyle warf einen kurzen Blick zurück zu Amy und schaute dann wieder
nach vorn.
»Scheint ein ziemliches Unwetter aufzuziehen«,
sagte er.
Die Gewitterwolken waren dick aufgequollen. Sie
verdeckten die untergehende Sonne, und es wurde vorzeitig dunkel. Unter einer
Wolkenbank am Horizont wehten Regenschleier durch einen Streifen Sonnenlicht
auf die Felder herunter.
Doyle beugte sich vor und begutachtete den Himmel
durch die Scheibe. Seine Stimme war leise. »Wie weit, glauben Sie, ist das
Gewitter entfernt?«
»Ich schätze, ungefähr fünf Meilen.«
»Vielleicht sollten wir kurz anhalten.« Er sah
auf die Uhr. »Oder Richtung Süden ausweichen.«
Zwei Meilen weiter kamen sie an einer
unbeschilderten, von Stacheldrahtzäunen gesäumten Straße vorbei. Wolgast hielt
an und setzte zurück. Die Straße führte über eine kleine Anhöhe hinweg und
verschwand in einer Reihe von Pappeln; wahrscheinlich verbarg sich ein Fluss
hinter der Anhöhe, oder zumindest ein Bach. Wolgast warf einen Blick auf das
Nävi. Die Straße wurde nicht angezeigt.
»Ich weiß nicht«, sagte Doyle, als er ihm das
Display zeigte. »Vielleicht sollten wir was anderes suchen.«
Wolgast schlug das Lenkrad ein und bog auf die
Straße, in Richtung Süden. Er glaubte nicht, dass es eine Sackgasse war, denn
in diesem Fall hätten Briefkästen an der Einmündung gestanden. Nach dreihundert
Metern verengte sie sich auf einen einspurigen Lehmweg mit ausgefahrenen
Fahrtrillen. Hinter der Baumreihe fuhren sie über eine Holzbrücke, die sich
über den Bach spannte, den Wolgast erwartet hatte. Das Abendlicht hatte eine
fahlgrüne Farbe angenommen. Im Rückspiegel sah er, wie der Sturm über den
Horizont heraufkam, und die Spitzen des wehenden Grases zu beiden Seiten
verrieten ihm, dass er ihnen folgte.
Sie waren noch einmal zehn Meilen weit gefahren,
als es anfing zu regnen. Kein Haus, keine Farm hatte am Wegrand gelegen; sie
waren mitten im Nirgendwo, und es gab keinen Schutz. Zuerst waren es nur ein
paar Tropfen, aber Sekunden später brach ein so gewaltiger Sturzregen über sie
herein, dass Wolgast nichts mehr sehen konnte. Die Scheibenwischer waren
machtlos. Er hielt am Rand des Straßengrabens an, und eine heftige Bö
schüttelte den Wagen.
»Was jetzt, Chief?«, fragte Doyle durch den
Lärm.
Wolgast drehte sich zu Amy um, die sich immer
noch schlafend stellte. Donner rollte über sie hinweg, aber sie machte keinen
Muckser. »Abwarten, würde ich sagen. Ich werde mich ein bisschen ausruhen.«
Er schloss die Augen und lauschte dem Prasseln
des Regens auf dem Dach des Tahoe, ließ das Geräusch durch sich
hindurchfließen. Das hatte er in den Monaten mit Eva gelernt: sich auszuruhen,
ohne sich wirklich dem Schlaf zu überlassen, damit er sofort aufspringen und
zu ihrem Bettchen gehen konnte, wenn sie aufwachte. Verstreute Erinnerungen
sammelten sich in seinem Kopf, Bilder und Empfindungen aus anderen Zeiten
seines Lebens: Lila in der Küche des Hauses in Cherry Creek, an einem Morgen
nicht lange, nachdem sie es gekauft hatten; sie schüttete Frühstücksflocken in
eine Schale Milch. Das Eintauchen ins kalte Wasser, wenn er vom Pier in Coos
Bay sprang, und die Stimmen seiner Freunde über ihm, die lachten und
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