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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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Indianapolis - genau wie Amy es bei der Frau in der
Warteschlange getan hatte, als sie das schmückende Detail von der kranken
Großmutter in Colorado zusammengesponnen hatte. So tat man es, begriff Wolgast:
Man fing an, eine Geschichte darüber zu erzählen, wer man sei, und schon bald
waren die Lügen alles, was man noch hatte, und man wurde zu dieser Person. Das
Holzdeck des Karussells unter seinen Füßen erbebte, als das Getriebe sich in
Gang setzte; aus den Lautsprechern über ihnen sprudelte Musik, und das Karussell
kam in Bewegung, während die Frau mit den roten Haaren in einer Gebärde von
geübter Koketterie den Kopf zurückwarf; sie lachte und streckte gleichzeitig
die Hand aus und berührte kurz Doyles Schultern. Dann drehte sich das
Karussell, und die beiden gerieten außer Sicht.
    Da kam ihm der Gedanke. Die Sätze standen klar
und deutlich in seinem Kopf, wie geschrieben.
    Geh einfach. Nimm Amy und geh.
    Doyle hat die Zeit vergessen. Er ist abgelenkt,
mach's einfach. Rette sie.
    Rundherum im Kreis herum, immer wieder. Amys
Pferd bewegte sich auf und ab wie ein Motorkolben, und in diesen wenigen Augenblicken
formten sich die Gedanken zu einem Plan. Wenn die Karussellfahrt vorbei wäre,
würde er sie nehmen und sich in die Dunkelheit und ins Gedränge schleichen,
weg von dem Bierzelt und zum Eingang hinaus, und wenn Doyle erkannte, was
passiert war, wäre da nur noch eine Lücke auf dem Parkplatz. Tausend und
nochmals tausend Meilen in alle Himmelsrichtungen; das Land würde sie mit Haut
und Haaren verschlucken. Er fühlte sich gut dabei. Er wusste, was er tat. Er
hatte den Tahoe aus genau diesem Grund behalten, das begriff er jetzt; schon
da auf dem Parkplatz in Little Rock hatte der Keim dieser Idee in ihm gelegen
wie ein Saatkorn kurz vor dem Platzen. Er wusste noch nicht, wie er es
anstellen sollte, die Mutter des Mädchens zu finden, aber das würde er sich
später überlegen. Noch nie hatte er so etwas empfunden - eine solche Explosion
von Klarheit. Sein ganzes Leben schien sich hinter dieser Sache zu versammeln,
hinter diesem einen Ziel. Der Rest - das FBI, Sykes, Carter und alle andern,
sogar Doyle - war eine Lüge, ein Schleier, hinter dem sein wahres Ich gelebt
und darauf gewartet hatte, ans Licht zu treten. Jetzt war der Augenblick da,
und er brauchte nur noch seinem Instinkt zu folgen.
    Die Fahrt verlangsamte sich. Er warf nicht
einmal einen Blick in Doyles Richtung; er wollte dieses neue Gefühl nicht
verjagen, nichts verderben. Als das Karussell zum Stehen gekommen war, hob er
Amy von ihrem Pferd und kniete vor ihr nieder, sodass er ihr in die Augen sehen
konnte. Er nahm ihre beiden Hände.
    »Amy, du musst mir jetzt einen Gefallen tun. Du
musst genau aufpassen.«
    Das Mädchen nickte.
    »Wir gehen jetzt weg. Nur wir beide. Bleib dicht
bei mir, und sprich kein Wort. Wir müssen schnell gehen, aber nicht rennen. Tu
einfach, was ich sage, und alles wird gut gehen.« Forschend sah er sie an:
Hatte sie ihn verstanden? »Verstehst du?«
    »Ich soll nicht rennen.«
    »Genau. Gehen wir.«
    Sie traten vom Karussell herunter; sie waren auf
der anderen, dem Bierzelt abgewandten Seite gelandet. Wolgast hob sie rasch
über den Zaun, der das Karussell umgab, legte dann eine Hand auf einen Metallpfosten
und flankte hinüber. Niemand schien etwas zu bemerken - oder doch, aber er sah
sich nicht um. Er hielt Amys Hand fest und ging mit schnellen Schritten auf den
Rand des Kirmesgeländes zu, weg von den Lichtern. Er wollte außen herum zum
Haupteingang gehen oder einen anderen Ausgang suchen. Wenn sie schnell genug
waren, würde Doyle erst etwas merken, wenn es zu spät wäre.
    Sie kamen zu einem hohen Maschendrahtzaun;
dahinter ragte eine dunkle Baumreihe auf, und noch weiter hinten leuchteten die
Lichter eines Highways. Hier war kein Durchkommen; der einzige Weg führte am
Zaun entlang zurück zum Haupteingang. Sie liefen durch ungemähtes Gras, das
noch nass vom Regen war und ihre Schuhe und Hosenbeine durchnässte. Sie kamen
bei den Imbissständen und dem Picknicktisch raus, wo sie gegessen hatten. Nur
dreißig Schritte weiter konnte Wolgast den Ausgang sehen. Sein Herz klopfte bis
zum Hals. Er blieb stehen und sah sich um: Doyle war nirgends zu sehen.
    »Schnell da hinaus«, sagte er zu Amy. »Sieh dich
nicht um.«
    »He, Chief!«
    Wolgast erstarrte. Doyle kam im Laufschritt
hinter ihnen her und zeigte auf seine Armbanduhr. »Ich dachte, wir hätten
gesagt, eine Stunde, Boss.«
    Wolgast schaute in das

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