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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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keine Sekunde
geschlafen zu haben, obwohl er den Wecker um fünf glatt verpennt und seine
Frühschicht versäumt hatte. Es war eine Zusatzschicht, und deshalb würde er
sich eine Ausrede ausdenken können - dass er da etwas durcheinandergebracht
oder einfach vergessen hatte -, aber so oder so würde er etwas zu hören
bekommen. Um zehn Uhr abends war er wieder dran. Er musste wirklich noch ein
Nickerchen machen, eine Mütze voll Schlaf tanken, um dann acht Stunden lang
Zero zu beobachten, wie er ihn beobachtete.
    Um sechs zog er seinen Parka an und ging quer
über das Gelände zur Kantine. Die Sonne würde erst in einer Stunde untergehen,
aber die Wolken hingen tief am Himmel und saugten das letzte Licht auf wie ein
Schwamm. Ein klammer Wind wehte ihm schneidend entgegen, als er zur Kantine
stapfte, einem Hohlblockgebäude, das aussah, als sei es in aller Eile errichtet
worden. Die Berge konnte er überhaupt nicht sehen, und an solchen Tagen hatte
Grey manchmal das Gefühl, das Gelände sei in Wirklichkeit eine Insel - die Welt
sei stehen geblieben und in ein schwarzes Meer des Nichts gestürzt, irgendwo
hinter dem Ende der langen Straße. Fahrzeuge kamen und verschwanden - Laster
und Lieferwagen und militärische Fünftonner mit Vorräten -, aber nach allem,
was Grey wusste, hätten sie vom Mond kommen und dahin zurückfahren können.
Sogar seine Erinnerung an die Welt begann zu verblassen. Er war seit sechs
Monaten nicht mehr jenseits des Zauns gewesen.
    In der Kantine hätte um diese Zeit Hochbetrieb
herrschen müssen; fünfzig oder mehr Leute hätten den Raum mit Wärme und Lärm
erfüllen müssen, aber als er durch die Tür trat, den Reißverschluss an seinem
Parka herunterzog und den Schnee von den Schuhsohlen stampfte, ließ er den
Blick umherwandern und sah nur eine Handvoll Männer verstreut an den Tischen
sitzen, allein oder in kleinen Gruppen, alles in allem nicht mehr als ein
Dutzend. Man sah ihrer Kleidung an, was sie taten: Das medizinische Personal
trug OP-Anzüge und Gummi-Clogs, die Soldaten in ihren winterlichen Tarnanzügen
beugten sich über ihre Tabletts und schaufelten ihr Essen in den Mund wie
Farmarbeiter, und der Putztrupp saß in UPS-braunen Overalls an den Tischen.
Hinter dem Speisesaal war eine Lounge mit Pingpong und Air Hockey, aber niemand
spielte dort, und auch vor dem Großbildfernseher saß keiner. Es war still im
Raum; man hörte nur leises Gemurmel und das Klirren von Glas und Porzellan.
Eine Zeitlang hatten in der Lounge auch ein paar Tische mit Computern
gestanden, mit eleganten neuen vMacs für E-Mail und allen möglichen Kram, aber
eines Morgens im Sommer hatten ein paar Techniker während des Frühstücks alle
Geräte auf einem Rollwagen weggeschafft. Ein paar Soldaten hatten sich beschwert,
aber das hatte nichts geholfen, die Computer waren nicht zurückgekommen, und
alles, was noch verriet, dass es sie mal gegeben hatte, waren ein paar Drähte,
die aus der Wand hingen. Ihre Entfernung war eine Art Strafe gewesen, vermutete
Grey, aber er wusste nicht, wofür. Er selbst hatte nie etwas mit den Computern
anfangen können.
    Trotz des nervösen Gefühls in seinem Körper
machte der Essensgeruch ihn hungrig - bei dem enormen Appetit, den das Depo
machte, war es ein Wunder, dass er nicht noch mehr auf die Waage brachte -, und
er belud sein Tablett, als er am Büfett entlangging. In Gedanken genoss er
schon die Mahlzeit, die er gleich einnehmen würde: einen Teller Minestrone,
Salat mit Croutons und Käse, Stampfkartoffeln und rote Bete und eine Scheibe Schinken,
auf der ein Ring gedörrter Ananas saß wie ein Diadem. Er vollendete das Ganze
mit einem Stück Zitronentorte und einem großen Glas Eiswasser und trug sein
Tablett zu einem freien Tisch in der Ecke. Die meisten Schrubberschwinger aßen
wie er allein; es gab eigentlich nicht viel, worüber man reden durfte. Manchmal
verging eine ganze Woche, ohne dass Grey auch nur »Buh« zu irgend jemandem
sagte - außer dem Posten auf Ebene drei, der ihn vor dem Zellentrakt ein- und
auscheckte. Es hatte eine Zeit gegeben, erinnerte Grey sich - und eigentlich
war es noch nicht so lange her -, als die technischen und medizinischen
Mitarbeiter ihm Fragen gestellt hatten, lauter Zeug über Zero und die Kaninchen
und die Zähne. Sie hatten sich seine Antworten angehört und genickt und
vielleicht etwas auf ihrem Laptop notiert. Aber jetzt holten sie sich die
Berichte wortlos ab, als sei die ganze Sache mit Zero erledigt, als gebe es
nichts

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