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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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und
eine weiße Frau mit einem Babysitz und einer Einkaufstüte und mit einer
offenen Brieftasche auf dem Schoß.
    »Bitte«, sagte er, »Lady, Sie müssen weiterfahren.«
    Die Tür des Pick-ups öffnete sich und spuckte
einen massigen, rotgesichtigen Mann in Jeans und T-Shirt aus. Seine Hände waren
so groß wie Baseballhandschuhe. Er würde Carter zerquetschen wie eine Wanze.
    »Hey!«, schrie er und streckte den Zeigefinger
aus. Seine dicke runde Gürtelschnalle glänzte in der Sonne. »Du da!«
    Die Frau hob den Blick zum Rückspiegel und sah,
was Carter sah: Der Mann hatte eine Pistole. »O mein Gott! O mein Gott!«,
schrie sie.
    »Er will den Wagen klauen! Der kleine Nigger
klaut ihr den Wagen!«
    Carter war starr vor Schreck. Alles brach jetzt
über ihn herein - ein wütendes Tosen, die ganze Welt hupte und brüllte und
wollte sich auf ihn stürzen, wollte ihn endlich ergreifen. Die Frau langte
hastig zur Beifahrertür und stieß sie auf. »Steigen Sie ein!«
    Er konnte sich nicht von der Stelle rühren.
    »Machen Sie schon!«, schrie sie. »Steigen Sie
ein!«
    Und aus irgendeinem Grund gehorchte er. Er ließ
sein Pappschild fallen, sprang in den Wagen und schlug die Tür zu, und die
Frau trat das Gaspedal durch und überfuhr die Ampel, die inzwischen wieder auf
Rot gesprungen war. Autos schleuderten links und rechts an ihnen vorbei, als
sie über die Kreuzung schossen. Eine Sekunde lang war Carter sicher, dass es
krachen würde, und er schloss die Augen und machte sich auf den Zusammenstoß
gefasst. Aber nichts passierte; alle wichen ihnen aus.
    Es war völlig irre, dachte er. Sie jagten unter
der Brücke hervor in den Sonnenschein. Die Frau fuhr so schnell, dass es
aussah, als habe sie ihn ganz vergessen. Sie überfuhren ein Bahngleis, und der Denali
machte einen solchen Satz, dass Carters Kopf ans Wagendach stieß. Auch die
Frau schien es durchzuschütteln, denn sie trat viel zu heftig auf die Bremse,
sodass er nach vorn gegen das Armaturenbrett flog. Dann riss sie das Lenkrad
herum und fuhr auf den Parkplatz vor einer Reinigung und einem Shipley's
Doughnuts. Ohne Anthony anzusehen oder ein Wort zu sagen, ließ sie den Kopf auf
das Lenkrad sinken und fing an zu weinen.
    Er hatte noch nie eine weiße Frau weinen sehen,
nicht aus der Nähe, außer im Kino und im Fernsehen. Im dicht verschlossenen
Innenraum des Denali konnte er ihre Tränen riechen; sie rochen wie schmelzendes
Wachs. Auch der saubere Duft ihrer Haare drang ihm in die Nase. Dann merkte er,
dass er auch sich selbst riechen konnte, was er schon lange nicht mehr getan
hatte, und der Geruch war nicht gut. Er war übel, wirklich übel, wie
verdorbenes Fleisch und saure Milch, und er schaute an sich herunter auf seine
schmutzigen Hände und Arme und das T-Shirt und die Jeans, die er schon seit
vielen Tagen trug, und er schämte sich.
    Nach einer Weile hob sie den Kopf vom Steuer und
wischte sich mit dem Handrücken die Nase. »Wie heißen Sie?«
    »Anthony.«
    Einen Moment lang fragte er sich, ob sie ihn
jetzt schnurstracks zur Polizei fahren würde. Der Wagen war so sauber und neu,
dass er sich darin vorkam wie ein großer, schmieriger Fleck. Aber wenn ihr der
Gestank unangenehm war, ließ sie es sich nicht anmerken.
    »Ich kann hier aussteigen«, sagte er. »Tut mir
leid, dass ich Ihnen solchen Ärger gemacht hab.«
    »Sie? Sie haben doch gar nichts getan.« Sie
atmete tief durch, legte den Kopf nach hinten an die Kopfstütze und schloss die
Augen. »O Gott, mein Mann wird mich umbringen. O
Gott, o Gott. Rachel, was hast du dir nur dabei gedacht?«
    Anscheinend war sie wütend, und vermutlich
wartete sie darauf, dass er einfach ausstieg. Sie waren nur vier Blocks
nördlich der Richmond Street; von dort konnte er mit dem Bus zu seinem
Schlafplatz zurückfahren, einem Brachgrundstück unten am Westpark Drive, neben
dem Recycling Center. Es war ein guter Platz; er hatte da nie Ärger, und wenn
es regnete, ließen die Leute von der Müllsammelstelle ihn in einer der leeren
Garagen schlafen. Er hatte etwas mehr als zehn Dollar bei sich, ein paar
Scheine und Kleingeld vom Vormittag unter der 610 - genug, um nach Hause zu
fahren und sich etwas zu essen zu kaufen.
    Er legte die Hand an die Tür.
    »Nein«, sagte sie rasch. »Steigen Sie nicht
aus.« Sie drehte sich zu ihm um. Ihre Augen waren verquollen vom Weinen.
Forschend sah sie ihn an. »Sie müssen mir sagen, ob Sie das ernst meinen.«
    Carter wusste nicht, wovon sie redete.
    »Was Sie da auf Ihr

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