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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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hatten ihm irgendetwas
gegeben, eine Spritze, die ihn schläfrig machte, ohne ihn einschlafen zu
lassen, und so hatte er ein bisschen gespürt, was sie da an seinem Nacken
machten. Ein kleiner Schnitt, und sie hatten etwas hineingetan. Hände und Füße
fixiert, »damit er es bequem hatte«, sagten sie. Dann hatten sie ihn in den
Aufzug geschoben, und das war das Letzte, woran er sich erinnerte: die Knöpfe,
und ein Finger, der auf E4 drückte. Der Mann mit der Pistole, dieser Richards,
war nicht mehr zurückgekommen, obwohl er es versprochen hatte.
    Jetzt war Carter wach, und auch wenn er nicht
sicher war, hatte er doch das Gefühl, unten zu sein, tief unten im Loch. Er war
immer noch an Händen und Füßen gefesselt, und wahrscheinlich hatte er auch einen
Gurt um den Leib. Der Raum war kalt und dunkel, aber irgendwo sah er blinkende
Lichter; wie weit sie entfernt waren, konnte er nicht erkennen. Und er hörte
das Rauschen eines Ventilators. Er konnte sich kaum erinnern, worüber er mit
den Männern gesprochen hatte, bevor sie ihn herunterbrachten; sie hatten ihn
gewogen, das wusste er noch, und ein paar andere Dinge getan, die jeder Arzt
tat: seinen Blutdruck gemessen und ihn in einen Becher pissen lassen und mit
dem Hämmerchen an sein Knie geschlagen und in seine Nase und seinen Mund gespäht.
Dann hatten sie ihm die Kanüle in den Handrücken gestochen - das hatte
wehgetan, höllisch wehgetan, und das hatte er auch gesagt, daran erinnerte er
sich: verdammt! - und
den Schlauch mit dem Beutel am Ständer verbunden. Der Rest war verschwommen. Er
erinnerte sich an ein komisches Licht, einen leuchtend roten Punkt an der
Spitze eines Stifts, und die Gesichter um ihn herum hatten plötzlich Masken
getragen. Einer, er konnte nicht sehen, welcher, sagte: »Das ist nur der Laser,
Mr Carter. Sie werden jetzt vielleicht einen sanften Druck spüren.« Jetzt, hier
im Dunkeln, wusste er es wieder: Als sein Gehirn sich in Wasser verwandelte
und alles weit wegschwamm, da hatte er gedacht, dass Gott sich einen letzten
Spaß mit ihm gemacht hatte und dass er jetzt vielleicht doch die Spritze
bekommen würde. Und er hatte sich gefragt, ob er bald den lieben Gott sehen
würde, oder Mrs Wood oder den Teufel höchstpersönlich.
    Aber er war nicht gestorben, er hatte nur
geschlafen, keine Ahnung, wie lange. Seine Gedanken waren eine Zeitlang
umhergedriftet, aus einer Dunkelheit in die andere, als wandere er durch ein
Haus, in dem kein Licht brannte. Weil er auch jetzt nichts sehen konnte, war es
unmöglich, sich zu orientieren. Er wusste nicht mal, wo oben und wo unten
war. Alles tat weh, und seine Zunge fühlte sich an wie eine zusammengerollte
Socke in seinem Mund oder wie ein seltsames pelziges Tier, das dort wohnte. In
seinem Nacken, dicht über den Schulterblättern, pochte der Schmerz. Er hob den
Kopf, aber er sah nur ein paar kleine Lichtpunkte - rote Lichter wie das an dem
Stift. Er konnte nicht erkennen, wie weit entfernt oder wie groß sie waren. Es
hätten die Lichter einer fernen Stadt sein können.
    Wolgast... der Name schwebte aus der Dunkelheit
in seinen Kopf herein. Irgendetwas mit Wolgast, und was er gesagt hatte - dass
er noch unendlich viel Zeit habe. Die Zeit kann ich Ihnen
gehen, Anthony. Alle Zeit der Welt. Unendlich viel. Als
wüsste er, was sich im tiefsten Winkel von Carters Herzen verbarg, als wären
sie einander nicht gerade erst begegnet, sondern schon seit Jahren gute
Bekannte. Solange Anthony zurückdenken konnte, hatte niemand so mit ihm
gesprochen.
    Dabei musste er an den Tag denken, an dem alles
angefangen hatte, als gehörten die beiden zusammen. Juni: Es war Juni, das
wusste er. Juni, und die Luft unter der Autobahnbrücke glühend heiß, und Carter
stand in einem Keil aus schmutzigem Schatten und hielt sein Pappschild vor der
Brust - HABE HUNGER, BITTE UM KLEINE SPENDE, GOTT SEGNE SIE -, als der Wagen,
ein schwarzer GMC Denali, am Randstein hielt. Das Beifahrerfenster öffnete
sich, nicht nur einen Spaltbreit, damit die Person, die im Wagen saß, ihm ein
paar Münzen oder einen zusammengefalteten Schein herausreichen konnte, ohne
dass sich auch nur ihre Finger berühren mussten. Nein, die Scheibe glitt ganz
herunter, in einer einzigen, fließenden Bewegung, sodass Carters Spiegelbild in
dem schwarz getönten Glas sich senkte wie ein Vorhang im Rückwärtsgang. Ihm
war, als habe sich in der Welt ein Loch aufgetan und einen geheimen Raum
offenbart. Es war gerade zwölf Uhr, und der Mittagsverkehr auf

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