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Cronin, Justin

Cronin, Justin

Titel: Cronin, Justin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Uebergang
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damit
sie sich ausruhte. Es war merkwürdig: Von allen schien Lacey nach den Ereignissen
des Nachmittags am wenigsten erschüttert zu sein. Sie hatte kaum ein Wort von
sich gegeben, weder zu den Schwestern noch zu Dupree. Sie hatte einfach nur
dagesessen, die Hände im Schoß, und die Tränen waren ihr über die Wangen gerollt.
Doch dann war etwas Komisches passiert: Die Polizisten hatten ihnen das Video
aus Mississippi gezeigt, und als Dupree den Film anhielt, um ihnen ein
Standbild der beiden Männer zu zeigen, war Lacey vorgetreten und hatte
konzentriert auf den Monitor gestarrt. Arnette hatte Dupree bereits gesagt,
dass die beiden es gewesen waren: Sie habe nicht den geringsten Zweifel daran,
dass die Männer auf dem Bildschirm dieselben waren, die zum Konvent gekommen
waren, um das Mädchen zu holen. Aber Laceys Gesicht - das so etwas wie
Überraschung zeigte, doch das traf es nicht genau: Arnette fiel das Wort Staunen ein -, Laceys Gesicht ließ sie alle warten.
    »Ich habe mich geirrt«, sagte sie schließlich.
»Das ist er ... nicht.«
    »Wen meinen Sie mit >er<, Schwester?«, fragte
Dupree sanft.
    Sie hob den Finger und zeigte auf den älteren
der beiden Agenten, auf den, der die ganze Zeit gesprochen hatte. Dabei war es
der jüngere gewesen, erinnerte Arnette sich, der Lacey das Kind aus den Armen
gerissen und in den Wagen gesetzt hatte. Auf dem Bild schaute er beinahe
direkt hinauf in die Kamera, und er hatte einen Plastikbecher in der Hand. Nach
dem Zeitstempel in der unteren rechten Ecke war das um 06:01 Uhr gewesen, an
jenem Morgen, als die beiden Beamten zu ihnen in den Konvent gekommen waren.
    »Ihn«, sagte Lacey und berührte das Glas des
Bildschirms.
    »Er hat das Mädchen nicht genommen?«
    »Er hat es ganz sicher getan, Detective«,
erklärte Arnette. Sie drehte sich um und sah Schwester Louise und Schwester Claire
an. Beide nickten zustimmend. »Darin sind wir uns alle einig. Die Schwester
ist nur durcheinander.«
    Aber Dupree ließ sich nicht beirren. »Schwester
Lacey? Was meinen Sie damit - das ist er nicht?«
    Ihr Gesicht leuchtete vor Überzeugung. »Dieser
Mann«, sagte sie. »Sehen Sie?« Sie drehte sich um und schaute in die Runde,
und dabei lächelte sie tatsächlich. »Seht ihr es? Er liebt sie.«
    Er liebt sie. Was
sollte man davon halten? Aber das war die einzige Erklärung, die Lacey
abgegeben hatte, soweit Arnette wusste. Wollte sie damit etwa andeuten, dass
Wolgast das Mädchen kannte? Konnte er Amys Vater sein? Was hatte das alles zu
bedeuten? Es erklärte nichts von dem, was im Zoo passiert war - tatsächlich war
in dem Chaos ein Kind niedergetrampelt worden und lag jetzt im Krankenhaus, und
zwei Tiere, irgendeine Katze und ein Affe, waren abgeschossen worden -, und es
erklärte auch nicht den Mord an dem College-Studenten oder sonst irgendetwas.
Aber während des restlichen Nachmittags auf dem Revier, wo sie ihre Geschichte
in verschiedenen Büros immer wieder erzählt hatten, hatte Lacey still
dagesessen und ihr seltsames Lächeln gelächelt, als wisse sie etwas, was sonst
niemand wusste.
    Arnette vermutete, alles ging auf diese
Geschichte zurück, die Lacey vor langer Zeit als Kind in Afrika zugestoßen war.
Arnette hatte sie den Schwestern anvertraut, als sie gestern Abend in der Küche
zusammensaßen. Sie hätte es wahrscheinlich nicht tun dürfen, aber sie hatte es
Dupree erzählen müssen, und als sie wieder zu Hause waren, war einfach alles ganz
von allein herausgekommen. Ein solches Erlebnis ließ einen Menschen niemals in
Ruhe, darin waren sich die Schwestern einig; es blieb für alle Zeit in ihm.
Schwester Claire - natürlich Schwester Claire, die auf dem College gewesen war
und ein hübsches Kleid und Schuhe in ihrem Schrank verwahrte, als könnte sie
jeden Augenblick auf eine schicke Party eingeladen werden - hatte auch einen
Namen dafür: posttraumatische Belastungsstörung. Das leuchtete ein, meinte
Schwester Claire; es ergab Sinn. Es erklärte Laceys Beschützerdrang dem Kind
gegenüber, und es erklärte auch, warum Lacey das Haus nie verließ und dass sie
sich von den andern abseits hielt, zwar mit ihnen zusammenlebte, aber zugleich
auch nicht - als sei ein Teil ihrer selbst immer anderswo. Arme Lacey, dass sie
eine solche Erinnerung mit sich herumtragen musste.
    Arnette sah auf die Uhr. 12:05. Das Brummen der
Generatoren draußen hatte endlich aufgehört, und die Kamerateams waren nach
Hause gefahren. Sie zog die Decke zurück und seufzte sorgenvoll. Es war

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