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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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Hofbesitzer auf die Knie und entblößte sein Haupt vor der seligen Jungfrau. Die Inschrift gab Aufschluss über das unglaubliche Geschehen:
                „Die segensreiche Jungfrau Maria voll der Gnaden hat geholfen! Ex voto – Engelbrecht Durchholzer von Maxing.“
                In früheren, abergläubischen Zeiten war es gang und gäbe gewesen in der Stunde der Not die heilige Jungfrau anzurufen und sich ihr zu „verloben“. Half die heilige Frau dem Betreffenden war es oberstes Gebot dieses Gelöbnis zu erfüllen, also auf Wallfahrt zu gehen, seinen Lebenswandel zu ändern und eben ein Votivbild in Auftrag zu geben. So manches Mirakelbild lief allerdings Gefahr unter einer dicken Firnisschicht zu verschwinden - so jenes des André Kreuzpaintner. Die Gottesmutter war dem moribunden Mesner im Fiebertraum erschienen, um ihm aufzutragen:
                „Er solle drey Sambstäg nach einander zum Kreuzbichl gehn, alldort soviel Garn opffern, darauß ein Altartuch möchte gewürckt werden!“
                Kreuzpaintner hatte getan wie ihm geheißen und war – wie konnte es anders sein - von seinem Gebrechen geheilt worden. Im Brennpunkt des Interesses standen jedoch nicht die Bilder, sondern die huldvoll, anmutig vom Altar herablächelnde Gottesmutter selbst. Ihr zu Ehren umringte ein Kordon weißwächserner, mit Rosenranken umwundener Votivkerzen den Altar. Schweigend betrachtete Simon das Gnadenbild: die Jungfrau auf der Mondsichel badete, sonnte sich im Glanz des Strahlenkranzes. Ihr Antlitz spiegelte weder den Schmerz der Mater Dolorosa noch die Gram der Jungfrau am Kreuz wieder. Frei von allen irdischen Beschwernissen und Bekümmernissen strahlte ihr Gesicht in jenseitiger Entrücktheit. In der Abgeschiedenheit der Kapelle schienen Gestern und Heute zu verschmelzen, die Gesetze der Temporalphysik aufgehoben zu sein. Simon vermeinte die knochige, ausgemergelte Gestalt seiner Oma vor sich zu sehen. Er sah wie sie ihn mit festem Griff zum Altar hinschob. Ihre Hände waren rau und hart wie der Schuppenpanzer eines Reptils, ihr Gesichtsausdruck von der starren Strenge eines versteinerten Fossils. Ihre bröselnde, bröckelnde Stimme schwang sich jedoch beim „Ora Pro Nobis“ zu ekstatischer Ergriffenheit empor:
                „Mater amabilis, ora pro nobis. Mater admirabilis, ora pro nobis. Mater boni consilii, ora pro nobis. Virgo prudentissima, ora pro nobis. Virgo veneranda, ora pro nobis.”
                Vor ein paar Jahren hatte er anlässlich irgendeiner Jubiläumsfeier für einen Hintergrundbericht über die Wallfahrt zur Maria von Himmelham recherchiert. Stundenlang hatte er in kahlen, kalten Kellerarchiven ausgeharrt, um die Berichte über Mirakeln in stockfleckigen, angeschimmelten Folianten zu studieren. Der fettleibige, kurzatmige, offensichtlich an chronischer Hypertonie leidende Kustos hatte ihn mit mürrischer Miene empfangen, die Schlüssel in die Hand gedrückt und seinem Schicksal überlassen. Nicht einmal die Kirche schien sich noch für Wundergeschichten und Gebetserhörungen, für die im Archiv begrabenen Ablassbriefe und Mirakel-Matrikel zu interessieren. Simon hatte bei seinen Recherchen herausgefunden, dass das Gnadenbild der „Virgo potens“ über Jahrhunderte hinweg ein Besuchermagnet gewesen war. Zur Blütezeit waren jedes Jahr über 100 Bittgänge, Pfarrkreuzgänge und Prozessionen gen Himmelham gezogen. Die Wallfahrerscharen hatten der kargen, unfruchtbaren Gebirgsgegend einen beispiellosen, wirtschaftlichen Aufschwung beschert. Die Mehrzahl der Pilger wollte schließlich nicht nur der heiligen Jungfrau, sondern auch Gambrinus, dem Patron der Braukunst, huldigen, um ihr eigenes, blaues Wunder zu erleben. Je mehr er sich in die mit ungelenken, hölzernen Worten geschriebenen Geschichten vertiefte, desto unergründlicher und rätselhafter erschien ihm das damalige Geschehen. Was hatte die Menschen bewegt? Mit welchen Augen hatten Sie ihre Welt gesehen? Was brachte Sie dazu sich mit Ruten auszupeitschen, härene Gewänder zu tragen, um sich hernach sinnlos zu besaufen und mit Buhldirnen im Stroh zu wälzen? Wie wollte man sich in die Gedankenwelt eines mittelalterlichen Mystikers oder Meuchelmörders hineinversetzen, wo man noch nicht einmal dazu imstande war, die Gedankengänge seines ärgsten Feinds oder seines besten Freunds nachzuvollziehen? Warum lehrte uns die Geschichte nichts? Ein wehmütiges Lächeln spielte um

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