Cruzifixus
entworfenen Feindbildern? Simon benagte seine Unterlippe:
„Das klingt ja alles ganz plausibel. Aber was bedeutet das konkret? Wer spielt hier welche Rolle? Ist unser Eremit so eine Art Johannes, der den Messias ankündigt? Und Paintinger ein abtrünniger Judas?“
Vronis Augen funkelten, doch um ihre Mundwinkel schlich ein amüsiertes Lächeln:
„Wenn du mich fragst, ist dein Johannes unser Mann. Oder einer seiner Jünger. Der ist verrückt genug, an seinen eigenen Irrwahn, an den Endkampf zwischen Gut und Böse zu glauben!“
„Diese wirren Weissagungen? Diese groteske Geschichte von den Dreihundert Königen unserer Zeit, die das Rad der Geschichte drehen und die Menschheit zum Totentanz bitten?“
Vronis Lächeln erstarb:
„So was in der Richtung! Es ist doch unfassbar, dass es Bischöfe gibt, die an eine jüdische Weltverschwörung und die Echtheit der Protokolle der Weisen von Zion glauben. Aber die braune Brühe gurgelt immer wieder aus dem Gully!“
War der Eremit in seinem Wahn zum Mörder geworden? Oder war er nur ein harmloser Irrer, der sich selbst für Johannes, Jesus oder Judas, zumindest aber für einen Auserwählten Gottes hielt. Simon würde es herausfinden müssen.
Die Gebieter des Grals
Omnes vulnerant, postuma necat! Jede Stunde verletzt, doch erst die Letzte tötet!
Simon stapfte die eng, gewundene Pfarrgasse bergan. An einer Gabelung wies ein aschgrau verwittertes Schildchen den Weiterweg: Zum Kreuzbichl. Die Gasse lag wie ausgestorben da. Das Viertel zu Füßen des Hügels hatte schon bessere Tage gesehen. In Simons Sturm- und Drang-Zeit hatten hier noch ehrenwerte Handwerker und kleine Geschäftsleute gewohnt, hatte es in der Gasse einen Fleischhauer und einen Schuster, dazu eine Möbelschreinerei, ein Haushalts- und Eisenwarengeschäft sowie einen Trödelladen gegeben. Heute waren die Schaufenster der Läden blind und leer, heute hausten hier nur noch die, die sich partout nichts Besseres leisten konnten: Aussteiger, Alte und gescheiterte Existenzen, Türken, Thekenschlampen und Trunkenbolde. Simon fühlte sich wie einer der nach langer Abwesenheit heimkehrte und sich als Fremder unter Fremden wieder fand. Die Beengtheit und Ausweglosigkeit des „Ghettos“ erdrückten, beängstigten ihn. Instinktiv beschleunigte Simon seine Schritte. Endlich lagen die letzten Häuser hinter und der sich den Hang hinauf schlängelnde Weg vor ihm. Der schmalen, kaum mehr als solchen kenntlichen Trittspur war anzusehen, dass sich nur selten ein Wandersmann hierher verirrte. Dabei bewegte man sich am Kreuzbichl auf historischem Boden. Zur Zeit des Prinzregenten hatte ein von einem Konsortium völkisch gesinnter Industrieller und Privatiers finanziertes Team von Schliemann-Epigonen nach den Überresten des germanischen Troja gesucht. „Etzels Gralsburg“ hatte sich zwar als Luftschloss erwiesen, dafür waren die Archäologen bei ihrer Grabung auf eine keltische Nekropole gestoßen. Die damals gefundenen Gegenstände, Grabbeigaben wie Schalen, Spangen, Schließen, Gemmen oder Fibeln, bildeten bis heute den Grundstock des Himmelhamer Heimatmuseums. Um die hier hausenden heidnischen Geister zu exorzieren, hatten die von einem widrigen Schicksal in die raue, unwirtliche Berggegend verschlagenen Mönche ein erstes, hölzernes Kirchlein errichtet. Aufgrund der reichlich sprudelnden heiltätigen Quellen war der Ort zum beliebten Wallfahrtsziel avanciert und die Kirche schnell in die Höhe und in die Breite gewachsen. Mit etwas Phantasie sah der klobige Turm wie ein siegessicher nach oben gereckter Daumen aus. Seine grob behauenen Tuffsteinquadern schienen jedenfalls für die Ewigkeit gefügt. Während Simon den Hang hoch keuchte, hörte er die Turmuhr fünfmal schlagen. Es blieb ihm also noch eine knappe Stunde, um sich auf das Zusammentreffen mit seiner Eminenz vorzubereiten. „Der Primas“, wie er reihum respektvoll genannt wurde, hatte sich vor einigen Jahren aufs Altenteil zurückgezogen und residierte seitdem im direkt neben der Kirche gelegenen Stiftsschlösschen. Jeder, der mit den kirchlichen Kabalen und Intrigen vertraut war, wusste um seine Machtposition, wusste um seine exzellenten Verbindungen in die Chefetage des Vatikans. Vroni hatte ihren ganzen Charme sprühen, Griesgruber sein ganzes Gewicht in die Waagschale werfen
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