Cruzifixus
Simons Mundwinkel:
„Tempora mutantur et nos mutamur in eis.“
In der Ästhetik des Erhabenen spiegelten sich Glanz und Gloria des Göttlichen. Simon war vom schönen Schein des Heiligen, Sphärischen wie geblendet. Der Zauber des Übersinnlichen, die empathische Leidenschaftlichkeit des Leidens und Liebens übte eine ungeheure Anziehungskraft auf ihn aus. Im Zeichen des Kreuzes erklangen feierliche Choräle, die das Thema von Schuld und Erlösung nach allen Regeln der polyphonen Kunst variierten. Ein hymnischer Hochgesang setzte mit großer Geste Kontrapunkte zur irdischen Rhapsodie und steigerte sich zu einem rasend vibrierenden, fugierten Finale. Jeder Altar glich einer Triumphpforte des Himmlischen. Massige, marmorierte Säulenpaare rahmten Gemälde in der expressiven, goldgrundigen Diktion eines Caravaggios. Das Chiaroscuro der Farben, der kraftvolle Duktus des Pinsels, die beredte Körpersprache der Figuren verriet die versierte Hand des Meisters. Die Erzbruderschaft vom süßen Namen Jesu und die Sodalen des marianischen Herzens-Sigill hatten sich mit den Oratorianern des heiligen Philipp Neri zusammengetan, um bei dem renommierten Münchner Hofmaler Francesco da Ponte den Ölschinken im XXL-Format in Auftrag zu geben. Da Ponte hieß eigentlich Franz Xaver Bruckner und stammte aus dem Hinterau-Tal, hatte seinen Namen aber später latinisiert, um sich mit dem Nimbus distinguierter Grandezza zu umgeben. Das Sujet bewegte sich im konventionellen Rahmen, gewann aber durch ein paar kompositorische Kniffe an Kraft und Originalität: die Gestalt im schwarzweißen Ordenshabit sollte wohl den heiligen Dominikus vorstellen. Der stiernackige Hals, der klobig, kantige Quadratschädel, die ins krebsrötliche changierende Knollennase legten allerdings die Vermutung nahe, dass kein weltabgewandter Asket, sondern ein den Sinnesfreuden zugetaner Lebemann für den Heiligen Modell gestanden hatte. Dominikus zupfte am Rockzipfel des Herrn, um seine Aufmerksamkeit auf die hinter ihm knienden Stifter zu lenken. Jesus jedoch richtete den entrückten Blick gen Himmel, dorthin wo man von jeher den Wohnsitz der Götter vermutete. Die Märtyrermannen saßen oben auf ihrer Wolke und wedelten mit ihren Palmzweigen wie eine Horde Hooligans mit dem Union Jack. Simon trat einen Schritt zurück, um den Altaraufbau im Ganzen bewundern zu können. Er verharrte schweigend, wandte sich schließlich zum Hochaltar, den End- und Fixpunkt aller himmlischen Herrlichkeit. Hier vollzog sich tagtäglich das Wunder der Transsubstantiation, verwandelte sich Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi. Zur Feier der Eucharistie funkelten Edelmetall und Edelstein um die Wette. Der Reliquienschrein glänzte von Silber und Gold, Aquamarine, Amethysten und Blutsteine glitzerten auf Altarkreuz und Monstranz. Die Mitte des Altars beherrschte die von einem goldenen Strahlenkranz umleuchtete Thronnische der Mutter Gottes. Eine gezackte Goldkrone zierte ihr anmutig zur Seite geneigtes Haupt. In ihrem unergründlichen, wissenden Lächeln lag ein Versprechen, ein Versprechen auf himmlische Wonnen, auf die Glückseeligkeit Arkadiens. Engelchen hielten Spruchbänder in ihren Patschhändchen, die den Lobpreis ihrer Güte und Edelmuts sangen:
„O Maria! Salus Infirmorum! Refugium Peccatorum! Consolatrix Afflictorum! Auxilium Christianorum!“
Er spürte wie ihn eine seltsame Erregtheit ergriff, wie ihn der betörende, leicht süßliche Geruch von Weihrauch und Myrrhe in der Nase kitzelte. Was ließ die Menschen glauben? Wirkte der Glaube wie ein Palliativum, wie Opium? Nein, das Geheimnis des Glaubens lag tiefer, es lag in der hingebenden Liebe der Mutter, einer Liebe, die stark war wie der Tod.
Drei Dinge schätzte der „Sachwalter Gottes“ über alles: Diskretion, Loyalität und ein bescheidenes, aber bestimmtes Auftreten. Seine Eminenz Archidiaconus Ignaz Irenäus Niederstrasser legte großen Wert auf distinguierte Umgangsformen und ein gewisses Maß an Etikette, verabscheute aber das devote, schranzenhafte Gehabe kniefällig, katzbuckelnder Kutten-Kulis. Seit seiner Demission von allen öffentlichen Ämtern hielt sich „der Primas“ dezent im Hintergrund und schlüpfte am liebsten in die Rolle des in die Jahre gekommenen, etwas zerstreuten Professors mit silbrig, struppigem Prophetenbart. Zu seiner Maskerade gehörten ein ausgewaschenes Flanellhemd, ausgebeulte, an den Knien
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