Cruzifixus
heimatlichen Bergen.“
Simon karikierte seinen theatralischen, überakzentuierten Redestil:
„Nun ging das immerzu steil bergauf und der Weg wollte kein Ende nehmen! Weber stapft vor mir durch den Schnee. Ich stauche ihn zusammen: Bist du närrisch geworden? Ich bin doch keine Gams, die am Himalaya herumklettert. Habt ihr kein besseres Versteck finden können? Wenn das noch lang so dahin geht, kehre ich um. Weber ist wie immer die Ruhe selbst und brummt nur beschwichtigend: Gleich sind wir heroben Wolf! Schau – da siehst schon die Hütte! Als wir ankommen, fällt uns Didi vor Freude um den Hals und ich vor lauter Müdigkeit ins Bett. Am nächsten Morgen scheint mir die Sonne ins Gesicht. Ich also hinaus auf die Veranda – und was sehe ich: Den Untersberg! Ein Anblick, den man nie mehr vergisst. In diesem Moment wollte ich nur eines: hier bleiben! Und meine innere Stimme hat Recht behalten. Am Berghof habe ich die glücklichste Zeit meines Lebens verbracht, hier haben meine großen Pläne Gestalt angenommen!“
Konnte das so stehen bleiben? Klang das nicht zu verharmlosend, zu heimelig und biedermännisch? Simon markierte die Stelle und zitierte mit erneuertem Aplomb aus seinem Text:
„Nach Ende seiner Festungshaft zog sich Hitler 1925 auf den Obersalzberg zurück, um in einer Blockhütte, dem Kampfhäusel, den zweiten Band von „Mein Kampf“ zu vollenden. Von da an kam Hitler regelmäßig zur Sommerfrische auf den Berg. 1928 mietete er für 100 Mark im Monat das Haus Wachenfeld, ein bescheidenes Anwesen im Landhausstil. Seine Halbschwester Angelika Raubal wurde als Haushälterin eingestellt. Am 26. Juni 1933 erwarb der frischgebackene Reichskanzler das Haus um 400000 Goldmark von der verwitweten Kommerzienratsgattin Winter aus Buxtehude. Hitler ließ das Haus von dem Münchner Architekten Alois Degano zum repräsentativen Sommersitz erweitern. Im Sommer 1936 war die Alpenresidenz des Führers, sein Märchenschloss fertig.“
Simon übersprang ein paar Seiten und kam zum Kapitel, der den programmatischen Titel „Der Herrgott vom Obersalzberg“ trug:
„Martin Bormann stammte aus bescheidenen Verhältnissen und war ein skrupelloser Machtmensch, der seine undurchsichtigen Ziele mit verbissenem Ehrgeiz verfolgte. Für Göring war er nur das „intrigante Charakterschwein“, aber selbst seinen Freunden und Mitarbeitern war die „braune Eminenz“ unheimlich. Jedenfalls wuchsen sein Einfluss und seine Macht von Jahr zu Jahr, bis kein Weg mehr an ihm vorbeiführte. Hitler berief den „treuesten seiner Parteigenossen“ zum Verwalter seines Vermögens und seiner Liegenschaften am Obersalzberg . Bormann erledigte seinen Job mit gewohnter Effizienz. Die einheimische Bevölkerung am Berg wurde rücksichtslos „abgesiedelt“. Parzelle für Parzelle, Lehen für Lehen ging in das Besitztum des Führers über. Sein allmächtiger „Treuhänder“ ließ sich die Enteignungsaktion einiges kosten: Insgesamt 7,2 Millionen Reichsmark für ein Gebiet von zirka 10 Quadratkilometern.“
Simon sah den Sekretär und seinen Herrn bildhaft vor sich: ein ungleiches Gespann, dass ihn an eine ins abartige, groteske verzerrte Karikatur von Sancho Pansa und Don Quijote denken ließ. Im Zuge seiner Recherchen war Simon auf ein von Bormann unterzeichnetes Schreiben gestoßen, indem er die Großherzigkeit des Führers tadelte und seine eigne, zupackende Entschlusskraft rühmte:
„Der Führer hat ein zu weiches Herz. Wo immer möglich scheut er vor staatlichen Sanktionen und Repressalien zurück - so hat er es mir rigoros untersagt, Zwangsmittel gegen die bäuerlichen Besitzer anzuwenden. Daher war ich gezwungen horrende Preise für ein paar schäbige Hundehütten zu bezahlen. Nach Abschluss der Verhandlungen ließ ich die Gebäude umgehend abreißen, um den Boden für eine vollkommene Neugestaltung des Areals zu ebnen. Es wurden vierzehn Arbeitslager errichtet, die Platz für über sechstausend Arbeiter boten. Meine oberste Maxime war es, für einen zügigen und geräuschlosen Fortgang der Bauarbeiten zu sorgen, um des Führers Frieden so wenig wie möglich zu stören.“
Beim Lesen dieser Zeilen gruselte es ihm jedes Mal aufs Neue. Dieser Bormann musste eine echte Canaille, ein Fiesling und Widerling in Reinkultur gewesen sein. Die in den
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